Kapitel 8

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Die Leute umringten Marlon, der sich erschöpft in den Schutt fallen ließ. Hannah lag zusammengekauert neben ihm und Olaf stützte sich außer Atem an der Umgebung ab. Er schaute dem Drachen hinterher, der bald aus seinem Sichtfeld verschwand, und atmete dann erleichtert auf.

Alle, die eigentlich geblieben waren, um zu kämpfen, krochen allmählich aus ihren Verstecken hervor und sahen sich verwundert um. Sie hatten den Überlebenskampf zuvor mit eigenen Augen beobachtet, doch erst jetzt, da der Drache verschwunden war, trauten sie sich nach draußen.

»Die Bestie ist fort!«, sagte jemand und wirkte überrascht. Fast so, als habe er nie daran geglaubt, dass Marlon und die beiden anderen je überleben würden. Sie begannen zu jubeln und merkten dabei nicht, wie finster Marlon dreinblickte. Er fing an, diese Heuchler zu verachten. Mehr, als er es zuvor bereits getan hatte.

»Es ist nicht euer Verdienst«, schrie er. Er rappelte sich auf. Keinem von ihnen hatte er sein Überleben zu verdanken. Der einzige Grund dafür war Olaf, ein alter gebrechlicher Mann. Nicht einer der starken jungen Kerle – mit Waffen ausgestattet und noch in den besten Jahren – hatte sich dazu herabgelassen, ihm und Hannah zu helfen. »Verkrochen habt ihr euch! Gewartet, was passiert. Und jetzt freut ihr euch des Triumphes.« Marlon spuckte vor sich auf den Boden. Er hatte einen schrecklichen Geschmack im Mund. Es schmeckte nach Angst. Das wollte er loswerden, denn nun verspürte er bloße Enttäuschung. »Dass mir keiner zu Hilfe eilt, das hatte ich mir ja denken können. Aber ihr wolltet auch Hannah dem Biest überlassen?« Er deutete auf das am Boden liegende Mädchen, dem noch immer Tränen über die Wangen liefen.

Die Leute wurden still und schienen tatsächlich erst jetzt zu bemerken, was beinahe geschehen wäre. Niemand sagte etwas. Marlon hoffte, dass ihr Gewissen sie plagte. Und zwar nicht bloß heute, sondern von nun an jeden Tag ihres erbärmlichen Lebens. Sie hätten eine ihrer Mitmenschen sterben lassen, nur um dem Kampf zu entkommen. Marlon hielt sich den Kopf und seufzte. »Und glaubt nicht, es sei vorbei«, murmelte er, sodass ihn kaum einer verstand. Selbst wenn sie ihn hörten, änderte das wahrscheinlich nichts. Sie würden dennoch untätig zusehen, zu feige, um zu kämpfen.

Aber Marlon allein könnte den Drachen niemals aufhalten. Viel schlimmer noch: Er war zudem offenbar sein Ziel. Er schaute auf seine rechte Handfläche und begutachtete das Muster des Drachenmals. Der Drache hatte ihn verschont – weshalb auch immer. Doch bei ihrem nächsten Treffen konnte er sich nicht darauf verlassen. Irgendwann wollte er Marlon töten und das lag allein an dem Mal, dessen war er sich sicher. Konnte es also tatsächlich sein, dass er nur seinetwegen Dronar angegriffen hatte?

»Zeig mal her.« Hannah war inzwischen aufgestanden. Sie wischte die Tränen mit dem Ärmel ihres Hemdes aus dem Gesicht und griff nach Marlons Hand. Vorsichtig fuhr sie über die feinen Linien und betrachtete sie genau. Kurz zuckte sie zurück, aus Angst, die Musterung könne auf sie übergehen. Dann strich sie weiter darüber und zog die Konturen nach.

»Hat es weh getan?«, wollte sie schließlich wissen und schaute ihm mit besorgtem Blick in die Augen.

Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Wenn er sich an die Qualen erinnerte, die ihm die Schuppe zugefügt hatte, überfluteten erneut die Bilder seine Gedanken. Doch diesmal waren es nicht ausschließlich solche. Auch Schmerzen verbreiteten sich. Die Hand, auf der das Mal gebrannt war, pulsierte und seinen gesamten Arm durchzog ein grausames Stechen. Er zog ihn zurück und rieb sich die schmerzenden Stellen.

»Es ist unangenehm«, sagte er schnell und hoffte, sie glaubte nicht, es sei ihre Schuld. Obwohl Marlon sich dessen selbst nicht ganz sicher war. Schließlich war es ihre Berührung, die sich so seltsam auf seiner Haut anfühlte.

Hannah schnappte nach Luft und schaute ihn erschrocken an. »Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut und verschränkte ihre Finger ineinander.

Marlon seufzte und drängte sich dazu, ihr alles zu erzählen. Er versuchte die Leute, die um ihn herumstanden und ihn entsetzt musterten, zu ignorieren. Es war ohnehin zu spät, es zu verheimlichen, also konnten sie gleich alle erfahren, was ihm geschehen war. Vielleicht änderte es ja etwas an ihrer Sichtweise.

Der GezeichneteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt