Kapitel 26

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Alles war still. Marlon hatte aufgehört zu atmen, sein Blick war verschwommen. Er merkte zwar, dass Tränen über seine Wangen liefen, allerdings spürte er sie kaum. Er hörte sein eigenes Schluchzen nicht. Er hörte gar nichts. Da war nur dieser Schmerz, der seinen gesamten Körper einnahm. Qualen breiteten sich von innen heraus aus, drohten ihn zu zerreißen.

So fühlte es sich also an zu sterben.

Sein Blick ging ins Leere. Die Kiesel, die unter ihm wegrollten, als er in sich zusammenbrach, bemerkte er nicht. Auch nicht Hannahs Arme, die nach ihm griffen. Undeutlich erkannte er ihre Augen. So unschuldig, so erschrocken.

Und doch war sie es gewesen. Er erinnerte sich an diesen einen Augenblick. Immer wieder spielte er sich in seinen Gedanken ab. Ohne zu zögern hatte sie geschossen.

Marlon entfuhr ein Schrei, den er selbst nicht wahrnahm. Er merkte, wie sein Gesicht sich verzerrte, seine Kehle brannte.

»Marlon?« Eine Frauenstimme, die ihm so vertraut vorkam, dass er sich von einem Moment auf den anderen wohl fühlte. So, als seien all die Schmerzen vergangen. Verzerrt, dennoch so wunderschön. Melodisch, als versuchte sie, ihn einzulullen. »Marlon, bist du in Ordnung?« Sie war besorgt. Aber weshalb? Es war doch alles gut. Es war zu Ende.

Marlon schloss die Augen. Er war in warmes Licht getaucht. Ein Ort, an dem er alles vergessen konnte.

Die Stimme hörte nicht auf, seinen Namen zu rufen. Sie wurde lauter, penetrant, beinahe störend. Versuchte ihn wachzurütteln, auch wenn er es nicht wollte. Er wollte in der Wärme, in der Gemütlichkeit, bleiben.

Als er sich zwang, die Augen zu öffnen, kehrten die Schmerzen in seiner Brust zurück.

Er glaubte die Frau zu erkennen, die ihn zu wecken versuchte. »Andalie«, murmelte er und wollte die durchscheinende Gestalt in die Arme schließen. Sie lebte. Sie hatte tatsächlich überlebt und endlich konnten sie zusammen sein. Endlich war das Elend vorbei.

Doch gerade, als er sie zu fassen bekam, veränderte sich ihre Gestalt. Sie wurde greifbar, nicht mehr so durchsichtig und strahlend. Er verstand nicht, weshalb es ihm möglich war, den menschlichen Geist des Drachen zu fühlen. Ihre letzte Berührung war nur wie ein Windhauch gewesen.

Schließlich erkannte er das Mädchen mit den blonden Haaren. Es war nicht Andalie, sondern ihre Mörderin.

»Marlon, bitte sag doch etwas. Ist alles in Ordnung?« Sie hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und streichelte behutsam über sein Gesicht.

Schnell setzte er sich auf, selbst wenn es ihm Schwindel bereitete. Mit einem Mal war seine Konzentration zurück. Er befand sich wieder voll und ganz in der Realität. Und er lebte.

»Was hast du getan?«, zischte er und beachtete Hannah nicht weiter, blickte stattdessen hinunter ins Tal. Er atmete auf, als er Andalie schwer keuchend auf dem Boden liegen sah. Ihre Wunde war aufgerissen und neben ihr kauerte Fynn.

Marlon wusste nicht, wie lange er sein Bewusstsein verloren hatte oder ob er überhaupt ohnmächtig gewesen war. Er konnte auch nicht sagen, wann Fynn hier eingetroffen war.

Marlon war so irritiert, dass er Deros zuerst ganz übersah. Er lag regungslos neben Andalie. Er atmete nicht.

»Es tut mir so leid. Ich wollte das alles nicht«, heulte Hannah und verdeckte ihr Gesicht, als ertrug sie den Anblick der beiden Drachen kaum noch.

Marlon würdigte ihr keines Blickes, sondern rappelte sich auf und schlitterte die Klippen hinunter. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Hin und wieder gaben sie beinahe nach, allerdings schaffte er es, Andalie zu erreichen.

Der GezeichneteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt