59.

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Jem

Am Morgen schaffte ich es zu duschen.

Ich stank wie ein Schwein und erst nach ein paar Anläufen befand ich mich für ausreichend sauber genug um herauszugehen.

Ich sah aus wie ein Crack - Junkie. Blass, dunkel umrandete Augen und eine rot angelaufene Nase. Na super.

Mein Haar war fettig und standen mir zu allen Seiten ab und seitdem - seit zwei Tagen - kein Diener mehr ins Zimmer kam, sah es hier aus wie ein Schlachtfeld.

Ich beorderte mir einen sauberen Anzug und räumte die Glasflaschen in meinem Schrank hinter den Krawatten und stellte ein paar schmutzige Teller aufeinander.

Als ich den Stapel der unbearbeiteten Akten sah, musste ich seufzen. Es nahm wirklich kein Ende.

Mit einem letzten Blick auf mein Quartier öffnete ich die Tür, trat aus und schmiss sie hinter mir zu. Als der Wache neben mir ein wenig aufschreckte, murmelte ich ein halbherziges „Entschuldigung." und machte mich auf den Weg nach draußen.

Ich brauchte dringend frische Luft.

Es war genau der Gang, wo mich Rain geführt hatte, als ich mich vor Ian versteckt hatte.

Sie schien mich überall hin zu verfolgen.

Die Zettel hatte ich in eine Schublade geknallt. Ich wollte sie einfach nicht mehr sehen.

Irgendwie hatte es in der Presse trotzdem kein großes Aufsehen gegeben, dass sie jetzt (angeblich für eine Woche) weg war.

Wer's glaubte.

Acht Tage bis ich mir eine Frau aussuchen musste.

Überraschungen kamen unerwartet.

Die Wachen tuschelten und ich ignorierte sie.

Die Gerüchteküche hier im Schloss brodelte und ich hatte absolut keine Lust sie noch weiter anzuheizen.

Wieso auch?

Der Bedienstetengang war leer und ich trat in den Schlossgarten. Der Himmel war bewölkt und es war kälter – schließlich war es Anfang November.

Die Kälte ignorierend ging ich ein paar Schritte um das große Beet mit den blauen Mohnblumen. Sie waren vor ein paar Wochen abgeblüht und das Beet war jetzt nur noch leer. Ein Gärtner fegte den gemusterten Mosaikboden des Parks und ein anderer nahm die vielen Figuren ab, um sie vor dem Frost zu schützen.

Ohne die Bepflanzung sah der Garten leer aus – und da sich jetzt niemand mehr herauswagte, war er noch trostloser.

Nachdenklich blickte ich zur Schlossmauer, die grau in den Himmel ragte. Ein paar Tauben, die den ganzen Winter hierblieben, saßen auf den Zinnen .

Auch der Brunnen war aus.

Auf der anderen Seite war die Fassade mit dem Balkon, der zur Stadt herausführte, wo meist der übliche Bericht gedreht wurde – oder Feste, Bälle oder hohe Gäste begrüßt wurden.

Dort wo ich auch einem Mädchen den Antrag stellen musste.

Ich sog die frische Luft ein.

Vancouver, dachte ich.

Hinter den Mauern, wo jetzt der Wintermarkt eröffnet wurde.

Ian hatte mir erzählt, dass sie dort Punsch, Kitsch und Mützen sowie heiße Bratwürste verkaufen würden.

Als ich den ersten Regentropfen auf meiner Hand spürte, kehrte ich um.

Der Wind wurde auch langsam stärker.

A Selection Story: Die Rebellin /  #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt