Ich war mir sicher, sie würden mich nicht gehen lassen. Nicht nach letzter Nacht. Nicht nach den Fragen. Nicht nach dem Blick in Abus Augen, der mehr gesagt hatte als Worte es jemals könnten.
Doch als ich meine Jacke nahm und zur Tür ging, sahen sie mich nur an.
RB lehnte gegen den Türrahmen, Arme verschränkt. Sein Blick brannte sich in meine Haut.
„Bleib nicht zu lange," sagte er ruhig.
Kein „Wohin gehst du?"
Kein „Ich komm mit."
Nur das.
Can nickte mir zu, als wäre alles normal. Selim hob kurz die Hand, so eine kleine, wortlose Geste, die ich nicht verstand.
Abu sagte nichts— er sah nur weg, Kiefer angespannt, Fäuste hart.
Etwas war anders. Nicht gut. Nicht schlecht. Einfach... anders.
Aber ich hatte keine Zeit, es zu hinterfragen. Mein Handy vibrierte noch einmal in meiner Hand, und ich wusste, dass Ares wartete.
Ich drückte die Tür auf.
„Rafi," sagte RB hinter mir.
Ich drehte mich um.
Sein Blick war dunkel, vorsichtig, fast... sanft.
„Pass auf dich auf."
Ich nickte und ging.
Es regnete leicht, feiner Sommerregen, der in der Luft hing wie ein Schleier.
Die Straßen rochen nach Asphalt, nasser Erde und Döner. Kreuzberg eben.
Mein Herz schlug zu schnell. Jeder Schritt war ein Kampf zwischen Angst und dem Drang nach Wahrheit.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, war wieder da.
Wie ein Schatten, der nie ganz verschwand.
Ich nahm die U-Bahn. Fuhr zwei Stationen. Stieg wieder aus. Lief.
Nicht, weil es schneller war— einfach, weil ich laufen musste.
Der Himmel war grau. Die Bäume triefend. Die Wege voller Pfützen.
Der Friedhof lag still, weit genug weg vom Bergmannkiez und Neukölln— als hätte er nichts mit unserer Welt zu tun.
Nur Toten gehörte er.
Ich trat durch das alte Tor. Rost, Stein, Efeu.
Die Luft war plötzlich kälter.
Meine Schritte klangen dumpf auf dem nassen Kies.
Und dann sah ich ihn.
Ares.
Er stand an einem Grab, nicht an Aykuts, sondern ein paar Reihen davor.
Schwarze Hose, dunkle Jacke, Kapuze nass vom Regen.
Er sah nicht auf, als ich näher kam.
Er wusste, dass ich da war.
„Du bist gekommen," sagte er leise.
Seine Stimme klang anders als am Telefon—
weicher, wärmer, echter.
„Du hast gesagt, es ist wichtig," antwortete ich.
Ares nickte, blickte weiter auf den Stein vor sich, irgendein Name, den ich nicht kannte.
„Es ist wichtig."
Ich stellte mich neben ihn, aber nicht zu nah. Der Regen sammelte sich in den Blättern über uns und tropfte in gleichmäßigen Abständen zu Boden.
„Was wolltest du mir sagen?"
Er atmete tief ein, als müsste er sich sammeln, und sah dann endlich zu mir— seine Augen waren dunkelbraun, aber nicht hart.
Mehr wie... Trauer, in menschliche Form gegossen.
„Du bist in Gefahr," sagte er. „Mehr, als du glaubst."
Ich lachte leise, bitter. „Das weiß ich längst."
„Nein," antwortete er ruhig. „Du verstehst nur die Oberfläche."
Ich umklammerte meinen Ärmel.
„Dann erklär's mir."
Er sah kurz zum Tor, als wollte er sicherstellen, dass wir allein waren.
„Die, die gestern kamen," begann er, „waren nicht die gleichen wie damals bei Aykut."
Mein Herz zog sich zusammen.
„Sie gehören zu einer neuen Gruppe. Sie versuchen, sich in Neukölln zu etablieren. Und RB— Selim— sie haben... ‚verhindert', dass das passiert."
Ich schluckte. Die Luft schien immer schwerer zu werden.
„Und ich?"
Ares sah mich an.
„Du bist der schnellste Weg zu ihnen."
„Ich wollte nie Teil davon sein," flüsterte ich.
„Ich weiß," sagte er.
„Aber du bist es trotzdem."
Stille. Regen. Frierende Gedanken.
„Ares... wieso hilfst du mir?"
Er hielt meinen Blick lange, so lange, dass ich fast wegsehen musste.
„Weil Aykut es so gewollt hätte."
Etwas in meiner Brust zerbrach.
„Du sagtest, ihr wart Cousins."
Er nickte.
„Er hat mich großgezogen, nicht nur RB und Can.
Aykut hat uns alle gehalten. Wie die Sonne in einem dunklen Hof."
Und plötzlich war ich wieder vierzehn, im Hof, mit Aykuṭ, der mir den Schal band und sagte:
„Nimm nie die Hand von jemandem, der dich liebt."
Ich blinzelte und eine Träne lief über meine Wange, ohne dass ich es bemerkte.
Ares sah es und drehte sich weg. Nicht aus Arroganz— aus Respekt.
Er ließ mir den Moment.
So stand ich dort, zwischen nassen Blumen und kaltem Stein, fragte mich, wie ein Toter mehr Leben in sich tragen konnte als jeder, der noch atmete.
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RAFIQA | abuglitsch
Fanfiction„𝗨𝗻𝗱 𝘄𝗲𝗶𝗹 𝗱𝗶𝗲 𝗪𝗮𝗵𝗿𝗵𝗲𝗶𝘁 𝗴𝗲𝗳ä𝗵𝗿𝗹𝗶𝗰𝗵 𝗶𝘀𝘁,"𝗳ü𝗴𝘁𝗲 𝗲𝗿 𝗹𝗲𝗶𝘀𝗲 𝗵𝗶𝗻𝘇𝘂,„𝗮𝗯𝗲𝗿 𝗨𝗻𝘄𝗶𝘀𝘀𝗲𝗻...𝗸𝗮𝗻𝗻 𝘁ö𝗱𝗹𝗶𝗰𝗵 𝘀𝗲𝗶𝗻." Rafiqa wächst in Kreuzberg zwischen Altbauten, Beats und bröckelnden Träumen auf...
