Wenn ich an Kindheit denke, denke ich an Abu. An unsere matschigen Schuhe im Mariannenpark, an zerbrochene Spielzeuge und daran, wie er mir im Kindergarten die Haare geflochten hat - mit dicken, kleinen Fingern und total schief. Ich hab's gehasst. Und trotzdem saß ich am nächsten Tag wieder vor ihm, mit einem pinken Haargummi in der Hand und einem Lächeln im Gesicht.
Abu war mein sicherer Ort, lange bevor ich wusste, was das eigentlich bedeutete. Damals hieß er noch Leon. Das sagt heute niemand mehr. Die Jungs hatten ihn irgendwann Abu genannt - irgendein Insider aus der Grundschule, an den sich keiner mehr richtig erinnern konnte. Aber der Name blieb. Genauso wie er.
Ich erinnere mich, wie er mich in der ersten Klasse vor einem Jungen verteidigte, der meinte, mein Pausenbrot stinke. Abu schubste ihn damals einfach um. Wortlos. Danach saßen wir gemeinsam im Direktorenzimmer. Ich mit Tränen in den Augen, er mit einem Grinsen. Und seitdem - unzertrennlich.
Jetzt saß er neben mir auf der Betonmauer am Kanal, das Sonnenlicht lag auf seinem Gesicht. Seine Haut war hell, aber er war einer von uns. Ein Bruder. Auch wenn sein Kosovarischer Pass immer Probleme machte. Abu war ein Kreuzberger, durch und durch. Mit oder ohne Aufenthaltstitel.
„Weißt du noch, wie du mich im Kindergarten gekratzt hast, weil ich deine Capri getrunken hab?", fragte er grinsend.
Ich lachte. „Du hast den nicht mal gefragt. Einfach genommen!"
„Bruder, du hast mich angeschrien wie ein Dämon."
„Und du hast geheult!"
„Ich war fünf!"
Ich lehnte mich zurück, stützte mich mit den Händen ab. Die Sonne blendete mich. Abu sah zu mir rüber, länger als sonst. Ich tat so, als merkte ich es nicht, aber mein Körper spannte sich an. Ich kannte diesen Blick. Den, den er nie zeigte, wenn andere dabei waren. Nur wenn es ruhig war. Nur wenn wir alleine waren - oder fast alleine.
„Du hast dich kaum verändert, weißt du das?", sagte er plötzlich leise.
„Wieso?"
„Du bist immer noch Rafi. Die, die alles sieht, aber nichts sagt. Die, die alle zum Lachen bringt, aber selbst nie redet, wenn's ihr scheiße geht."
Ich schwieg. Schluckte. Er hatte recht. Ich war das Mädchen mit dem Lächeln, die, die ihre Probleme in Playlists steckte und sie laut spielte, damit keiner hörte, wie sehr es drinnen schrie. Ich war so aufgewachsen. In einer Wohnung, in der sich meine Eltern auf Arabisch anschrien und mich gleichzeitig fragten, warum ich so still war.
Abu wusste das. Er wusste alles. Er hatte mich gehalten, als ich mit 13 zum ersten Mal aus dem Fenster klettern wollte, weil es zuhause zu viel war. Er hatte mir sein Handy gegeben, als ich keins hatte. Mir Gras gegeben, aber immer darauf geachtet, dass ich's nicht übertreibe. Er war Dealer - ja. Aber bei mir war er nie das.
„Du bist ruhiger geworden", murmelte ich.
„Das Leben ist lauter geworden", antwortete er.
Ein paar Meter weiter lachten RB und Can, sie machten Jokes über irgendeinen Song, den Can heute Nacht schreiben wollte. Ich sah sie an - meine Jungs. Und dann sah ich wieder Abu an. Ich fragte mich, ob sie es wussten. Ob sie ahnten, wie viel ich für ihn empfand. Ich sagte nie was. Ich konnte nicht.
Denn ich war Rafi. Sonnenschein. Die Kleine aus dem dritten Stock. Die mit dem Dauerlächeln und den Kopfhörern. Die für alle Schwester war - sogar für Can, obwohl ich genau spürte, dass da manchmal ein Hauch von mehr in seiner Stimme lag, wenn er mich „canım" nannte.
Aber bei Abu war es anders. Bei Abu war es... gefährlich. Weil ich wusste, dass es real war. Dass er mich ansah, wie keiner sonst. Dass er meinen Herzschlag kannte, ohne ihn zu hören.
„Was ist?", fragte er.
„Nichts."
Er nickte, sagte nichts mehr. Stattdessen nahm er meine Hand. Einfach so. Wie früher. Ohne Grund. Ohne Absicht. Und vielleicht gerade deshalb zitterten meine Finger.
In Kreuzberg 61 war Liebe kompliziert. Wir sprachen nicht darüber. Wir rauchten, wir liefen durch Nächte, wir schwiegen, wenn es wehtat. Gefühle waren Luxus. Und Luxus war hier gefährlich.
Aber an diesem Abend, zwischen grauem Wasser und Lachen im Hintergrund, hielt Abu meine Hand. Und ich ließ es zu. Weil es das Einzige war, was sich gerade echt anfühlte.
Und weil ich wusste - egal, was kommt, egal, wie dunkel diese Stadt noch wird - Abu war mein Zuhause.
Schon immer.
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RAFIQA | abuglitsch
Fanfiction„𝗨𝗻𝗱 𝘄𝗲𝗶𝗹 𝗱𝗶𝗲 𝗪𝗮𝗵𝗿𝗵𝗲𝗶𝘁 𝗴𝗲𝗳ä𝗵𝗿𝗹𝗶𝗰𝗵 𝗶𝘀𝘁,"𝗳ü𝗴𝘁𝗲 𝗲𝗿 𝗹𝗲𝗶𝘀𝗲 𝗵𝗶𝗻𝘇𝘂,„𝗮𝗯𝗲𝗿 𝗨𝗻𝘄𝗶𝘀𝘀𝗲𝗻...𝗸𝗮𝗻𝗻 𝘁ö𝗱𝗹𝗶𝗰𝗵 𝘀𝗲𝗶𝗻." Rafiqa wächst in Kreuzberg zwischen Altbauten, Beats und bröckelnden Träumen auf...
