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Auf dem Weg zurück nach Kreuzberg rauschte die Welt an mir vorbei, doch ich nahm sie kaum wahr.
Berlin vibrierte wie immer – Sirenen, Musik aus offenen Autofenstern, Gerüche von Grillfleisch und Regen auf heißem Asphalt.

Aber alles fühlte sich gedämpft an, als wäre ein unsichtbarer Schleier zwischen mir und der Welt.

In meinem Kopf nur ein Name: Aykut.

Ich erinnerte mich an seine Familie – seine Mutter, die mich immer „Kızım" genannt hatte, seinen Vater, der kaum sprach, immer still mit Zigaretten und Tee in der Küche saß.

Zu seiner Beerdigung waren sie da gewesen. Und nach seinem Tod hatten sie den Kontakt zu den Jungs abgebrochen.
Zu allen. Auch zu mir.

Damals hatten wir gedacht, sie wollten einfach nur ihre Ruhe. Trauern. Weiterleben.

Aber heute, nach Ares' Worten, fragte ich mich, ob es mehr gewesen war. Ob es Wut war. Oder Schuld. Oder Angst.

Hatte Aykut Familie, von der wir nichts wussten? Cousins, Brüder, andere Verwandte?

Vielleicht jemand wie Ares. Jemand, der im Hintergrund geblieben war, aber immer wusste, was lief.

Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr spürte ich, wie alles in mir dichter wurde. Ein Knoten, der sich nicht lösen wollte.

Ares' Blick, als er vor dem Grab stand... Er kannte Aykut. Nicht nur flüchtig. Nicht nur vom Sehen.
Da war mehr. Tiefe. Geschichte.

Aber er hatte dichtgemacht, als ich ihn darauf ansprach – als hätte er etwas gesagt, das er nicht sagen durfte.

Vielleicht wusste er Dinge, die andere verborgen halten wollten.
Vielleicht war sein Schweigen Schutz. Oder Drohung.

Ich spürte, wie mir kalt wurde, trotz der warmen Abendluft.

Als ich zurück in Kreuzberg war, fühlte sich alles vertraut an und trotzdem falsch.

Die vertrauten Fassaden unseres Altbaus, die grelle Schrift des Spätis an der Ecke, die Stimmen der Menschen, die ihre Abende draußen verbrachten – alles wirkte als wäre es nur Dekoration für etwas viel Dunkleres.

Schon bevor ich in den Hof bog, hörte ich sie.
Die Jungs. Ihre Stimmen, ihr Lachen, ihr typisches Durcheinander.

RB, laut.
Can, tief entspannt.
Abus Grinsen hörte man sogar, wenn man ihn nicht sah.

Normalerweise war dieses Geräusch Heimat. Heute fühlte es sich wie eine Barriere an.

Ich konnte ihnen nicht begegnen. Nicht jetzt. Nicht mit all den neuen Fragen in meinem Kopf, nicht mit Ares in meinem Nacken.

Also bog ich links ab, weg vom Hofeingang, durch die schmale Gasse, wo sich Mülltonnen stapelten und eine alte Metalltür zum Seiteneingang führte.

Wir alle kannten diesen Weg.
Er war nützlich, wenn man unbemerkt rein oder raus wollte.

Ich legte meine Hand auf die kalte Klinke.
Atmete tief. Hörte für einen Moment zu –

Abu lachte laut, RB erzählte etwas, das Can kommentarlos in ein „Bruder, wallah nein" verwandelte.

Normal. Vertraut. Und trotzdem fühlte ich mich fremd.

Ich drückte die Tür auf und schlüpfte hinein.

Der Flur war dunkel, nur das gelbliche Neonlicht flackerte wie immer.

Ich schlich die Treppen hoch, leise, als könnte mich jemand entdecken.

Auf halber Höhe blieb ich kurz stehen, schloss die Augen und lauschte.

Meine Jungs waren da. So nah.
Ihre Stimmen drangen durchs offene Hofdach herein.

Und ich... ich schlich an ihnen vorbei wie ein Geheimnis, das sie nicht kennen durften.

Es tat weh. Tiefe, kranke Art Schmerz.

Aber ich konnte ihnen nicht in die Augen sehen, nicht jetzt. Nicht, solange ich nicht wusste, was Ares wusste.

Solange ich nicht verstand, was mit Aykut passiert war.

Ich ging weiter nach oben, Schritt für Schritt, allein mit meinen Gedanken, die schwerer waren
als jeder Sommerregen.

Erst als ich in meiner Wohnung war und die Tür leise hinter mir schloss, ließ ich mich gegen das Holz sinken und atmete aus, als hätte ich seit Stunden die Luft angehalten.

In der Stille hörte ich mein Herz. Schnell. Hart.

Und plötzlich wusste ich:
Egal wie sehr ich Abu liebte, wie sehr ich RB vertraute, wie sehr Can mich zum Lachen brachte –
Dies war ein Weg, den ich allein gehen würde.

Zumindest vorerst.

Denn ich war schon viel zu tief drin.

Und jemand wie Ares tauchte nicht aus Zufall
an den Schatten meiner Vergangenheit auf.

Nicht aus Zufall an Aykuts Grab.

Etwas verband sie.
Etwas, dessen Fäden ich jetzt erkennen musste.

Egal wohin sie führten.

Auch wenn es wehtun würde.

Vielleicht vor allem dann.




chayas bitte sagt mir was ihr denkt

RAFIQA | abuglitschWhere stories live. Discover now