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Kreuzberg, Juli. 29 Grad, kein Wind. Die Hitze blieb wie Rauch in den Straßen hängen. Sie klebte an den Altbaufassaden, an den Gesichtern, an allem. Alles fühlte sich schwerer an als sonst. Selbst das Atmen.

Die Jungs waren fast nie mehr da.

RB. Abu. Can.
Immer unterwegs. Immer laufen. Immer auf irgendeiner Mission.
Manchmal für Stunden. Manchmal für Tage.
Und wenn ich fragte, wohin - zuckten sie mit den Schultern, sagten nur „Bringt Geld, Rafi. Yani, muss."

Ich verstand es ja. Irgendwie.
Sie hatten Schulden. Gefährliche Leute im Nacken.
Aber trotzdem: Ich war allein.
In diesem Haus. In diesem Hof.
Mit meinen Gedanken.

Ich fühlte mich wie vergessen. Wie aus Versehen zurückgelassen.

Es war später Nachmittag, so gegen sechs. Die Sonne war noch hoch, aber das Licht war weicher geworden, wie durch einen lila Schleier.
Ich saß wieder im Hof. Auf der alten Bank, neben dem rostigen Fahrradständer. Dieselbe Bank, auf der ich schon als Kind mit Abu Eistee getrunken hatte. Dieselbe Bank, auf der Can mir sein erstes Tape vorgespielt hatte. Dieselbe Bank, auf der ich RB zum ersten Mal hatte weinen sehen, weil sein Vater ihn geschlagen hatte.

Jetzt war ich hier. Und keiner von ihnen.

Ich hatte nichts gegessen, nur paar Zigaretten geraucht.
In meiner Tasche: eine Sprite-Flasche, halbvoll. Aber nicht mit Sprite.
Drin war Lean.
Promethazin, Codein - irgendwas was RB mal aus'm Apothekendeal gezogen hatte.
Ich wusste, dass es dumm war.
Aber ich hatte genug davon, stark zu tun.
Wenn die Jungs high funktionierten, konnte ich das auch.

Also trank ich. Erst kleine Schlucke. Dann mehr.
Der Geschmack war süß, fast wie Bonbon.
Ich fühlte nichts - und genau das war das Ziel.

Die Musik in meinen Kopfhörern war langsam geworden.
Alles war langsam.
Die Schatten tanzten vor meinen Augen, flossen ineinander.
Meine Arme wurden schwer.
Meine Beine leicht.

Ich lehnte mich gegen die Mauer. Kopf gegen die Steine. Ich lachte leise.
Weil ich gar nicht mehr wusste, worüber ich nachdachte.
Weil es sich gut anfühlte, nichts zu fühlen.

Dann: Schritte.
Erst fern. Dann näher.
Stimmen.

RB.
Can.
Abu.

Ich hörte sie reden, lachen - dann stockten ihre Stimmen.

„Rafi?"

Es war Abu.
Panik in seiner Stimme.

Ich öffnete die Augen - oder versuchte es.
Alles war lila. Als ob sich der Himmel über Kreuzberg gefärbt hätte.

„Rafi! Wallah, was hast du genommen?"

Ich wollte antworten.
Aber mein Mund war zu langsam.
Meine Zunge zu schwer.

Dann Hände. Starke Arme, die mich hochhoben.

„RB, fass mit an! Can, mach die Tür auf!"

„Wie viel hat sie getrunken, Bruder?! Guck mal, wie sie aussieht!"

„Die Flasche da - fuck, Lean..."

Ich wurde getragen. Über den Hof. Durch die Eingangstür. Hoch die Treppen. Ich spürte Abu's Arme um mich.
Sein Herz schlug schnell. Ich lag an seiner Brust. Ich roch sein Deo, sein Shirt, die Straße an ihm.

Ich hörte Can fluchen.
RB atmete schwer.
Abu murmelte meinen Namen, immer wieder. „Rafi... Rafiqa, komm schon, mach die Augen auf..."

Die Wohnung. Abu's Zimmer.
Ich wurde auf sein Bett gelegt.
Das Licht war gedimmt. Alles roch nach Waschmittel, Rauch und irgendwas Vertrautem. Nach Zuhause.

Jemand schlug mir leicht gegen die Wangen. „Bleib bei uns, Rafi. Yallah, hörst du mich? Du darfst nicht weggehen."

Ich murmelte etwas. Oder glaubte es.
Ich wusste nicht, ob ich wach war oder träumte.
Ob ich lag oder schwebte.
Ob es Nacht war oder Tag.

Ich spürte nur Abu's Hand auf meiner Stirn.
Und RBs Stimme, hart wie Asphalt: „Wer hat ihr das gegeben? Wer hat ihr diesen Scheiß gegeben?"

Can antwortete ruhig: „Bruder... wir haben's hier gelassen."

Stille.

Dann: „Ich bleib bei ihr. Ihr geht raus. Guckt, dass keiner hochkommt."

Abu. Natürlich Abu.

Die Tür fiel leise ins Schloss.

Ich drehte mich leicht. Oder wollte es. Meine Finger bewegten sich.
Ich spürte die Decke. Die Hitze.
Und Abu's Hand in meiner.

„Wallah, Du bist so ein verdammter Kopfschmerz, Rafiqa", flüsterte er.
„Aber du bist mein Kopfschmerz."

Und dann: Dunkelheit.
Lila.
Und Frieden.
Zumindest für einen Moment.

RAFIQA | abuglitschWhere stories live. Discover now