Mit dem Einbruch der Sonne schien eine unsichtbare Kraft die Menschen in ihre Behausungen zu treiben, als ob das Verblassen des Mondlichts sie unaufhaltsam ermahnen würde, Schutz zu suchen. Lediglich jene, die sich den Luxus erlauben konnten, sich dem diktierenden Rhythmus des Tages zu entziehen, blieben draußen, die Privilegierten, deren Leben nicht länger von dem Licht abhingen. Karlotta und ich fanden Zuflucht in einer Bibliothek, einem stillen Rückzugsort, fernab von der hektischen Welt draußen.
Über dem Eingang prangte in verwitterten Buchstaben "Deadwood Library". Als wir die massive Tür öffneten, durchbrach ein langgezogenes, heiseres Knarren die Stille um uns herum, bevor der Raum wieder in seine ursprüngliche Ruhe zurückfiel. Das Innere der Bücherei wirkte beinahe wie ein Zeitrelikt – ein Ort, den die Jahre scheinbar vergessen hatten. Eine dicke Staubschicht bedeckte den Boden und die Regale, als hätten jahrzehntelang keine Hände versucht, Ordnung in die verstreuten Bücher zu bringen. Die einst systematisch angelegten Gänge waren inzwischen ein chaotisches Labyrinth des Vergessenen geworden.
Karlotta bewegte sich mit Bedacht durch die Reihen, während ihre Fingerspitzen sanft über die Buchrücken glitten und ihr Blick ziellos zwischen den veralteten Werken schweifte. Nachdem sie für einen Moment innegehalten hatte, ließ sie sich lautlos auf den staubigen Holzfußboden nieder. Mit ausgestreckten Beinen und dem Rücken an ein Regal gelehnt schien sie vollkommen im Moment zu verweilen.
Unsicher, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte, verharrte ich vor ihr. Ihre Augen, erfüllt von einer stummen Erwartung, trafen meinen Blick, und ich spürte das deutliche Unbehagen des Nichtwissens. Sie wollte etwas von mir, doch was? Hilflos zog ich eines der Bücher aus dem Regal und hielt es ihr entgegen. "Nein, Jolika", entgegnete sie mit einem sanften Lächeln und einem leichten Kopfschütteln. "Lesen ist gerade nicht das, wonach mir der Sinn steht. Komm her, setz dich zu mir, du kleiner, unschuldiger Schutzengel."
Mein Blick wanderte nach unten, ehe ich das Buch an seinen ursprünglichen Platz zurücklegte und mich neben ihr auf den Boden niederließ. Leise murmelte ich: "Es tut mir leid..." Es war mehr Reflex als bewusstes Geständnis, eine Angewohnheit, die tief in mir verwurzelt war. Entschuldigungen waren ein fester Bestandteil meines Lebens, fast wie ein Automatismus. Fehler galten bei mir als unverzeihlich, und wenn sie trotzdem passierten, blieben Konsequenzen nicht aus. Oft hatten mich meine Entschuldigungen davor bewahrt, bestraft zu werden.
"Was? Du musst dich doch dafür nicht entschuldigen. Was hast du bloß erlebt, dass du für so etwas Belangloses um Verzeihung bittest? Das Leben war wohl auch nicht gerade fair zu dir, huh? Kenn ich zu gut." Ihre Worte irritierten mich. Ich sollte mich nicht entschuldigen? Warum nicht? Ich hatte einen Fehler gemacht, ich hatte mich dem Gehorsam widersetzt.
Nein. Sie hatte Recht. Es war nicht nötig. Sie war mir nicht überlegen. Sie war nicht Varnak. Sie hatte mir nichts vorzuschreiben. Nur Varnak ist meiner Unterwürfigkeit würdig. Sonst keiner. Ich sollte sie köpfen, um ihr zu zeigen, dass sie mir keine Befehle geben durfte.
Leise sagte ich "Okay" und ließ meine Gedanken ungesehen und unausgesprochen in mir ruhen. Die Minuten vergingen, begleitet von einem schweigenden Stillstand. Nach und nach beruhigte sich ihr Herzschlag, ihre Atemzüge wurden flacher, bis die Erschöpfung sie schließlich in den Schlaf trug. Ihr Kopf neigte sich langsam zu mir und fand Halt an meiner Schulter, wo ich ihn vorsichtig stützte.
Regungslos blieb ich sitzen, die Zeit schien zu verschwimmen, bis ein kaum wahrnehmbarer Schatten meine Aufmerksamkeit fesselte. Eine menschliche Silhouette blitzte im Augenwinkel auf, so kurz, dass sie wie ein Trugbild erschien. Doch schon zuvor hatte ich dieses mulmige Gefühl, unsicherer und schwerer werdend, je länger wir dort verweilten. Es war die ungreifbare Gewissheit, nicht allein zu sein. Während Karlotta schlief, drang die beunruhigende Präsenz immer weiter in mein Bewusstsein, glühte wie ein unsichtbares Feuer in der Stille. Hinzu kam ein unerklärlicher Herzschlag, den ich war nahm. Tief, nicht ganz fremd, und doch eindeutig spürbar. Es konnte nicht ihrer sein, und genauso wenig einer von mir. Mein eigener Herzschlag war nicht wie der eines Menschen. Dieses Geräusch war etwas weitaus Unnatürlicheres.
Achtsam richtete ich mich auf und schüttelte Karlotta sanft, flüsterte ihren Namen wie durch einen Schleier aus Vorsicht. Langsam öffnete sie ihre Augen, sichtlich verwirrt angesichts des abrupten Erwachens. Gerade als sie ansetzte, etwas zu sagen, legte ich behutsam meine Hand über ihren Mund. Das lautlose "Shhh. Wir sind nicht allein. Bleib hier, kein Ton.", das meinen Lippen entwich, war keine bloße Aufforderung, sondern eine eindringliche Mahnung. Mein Blick traf ihren mit einer drängenden, stummen Präsenz. Es war eine stille Bitte voll gespannter Dringlichkeit, deren Gewicht mehr sagte als Worte jemals könnten.
Lautlos schlich ich durch die engen Gänge der Bücherei, jede Bewegung bedacht, jedes Geräusch vermieden. Zu meinem Erstaunen folgte Karlotta mir. Ich fühlte ihre Präsenz hinter mir, ganz ohne hinzusehen. Jegliche Diskussion wollte ich vermeiden – sollte sie eben mitkommen, solange sie still blieb und sich nicht wie ein Elefant zwischen den Regalen vorwärtsdrängte. Je näher wir uns dem verstörend beunruhigenden Herzschlag näherten, desto wachsamer wurden meine Sinne.
Der Anblick, der mich schließlich unter einer schief hängenden Karte an der Wand, auf die ich einen kurzen Blick warf, erwartete, ließ mich fast erstarren. Auf dem Boden lag Varnak, ausgestreckt und tief schlafend, völlig losgelöst von der Welt. Diese Szene traf mich unvorbereitet und warf meine bisherigen Gewissheiten über den Haufen. Unbemerkt stolperte ich gedanklich, hielt inne und trat einen Schritt zurück. Was machte er hier? Warum gerade in einer Bücherei? Fragen türmten sich auf, jede jedoch zerbrach an einer ungreifbaren Leere. Und Antworten? Sie blieben aus. Weder von Karlotta noch von ihm. Es war sofort klar. Ich durfte ihn nicht direkt darauf ansprechen, wenn wir uns wiedersehen würden. Würde Varnak bemerken, dass ich hier war, könnte er folgern, dass ich das Motel verlassen hatte, und genau diese Konfrontation musste unter allen Umständen vermieden werden.
Karlotta hingegen schien keinerlei Ahnung zu haben, in welcher prekären Situation wir uns befanden. Ihre Stimme zerriss die Stille unverhohlen und rücksichtslos: "Ach, einer dieser Penner. Armer alter Schlucker. Vermutlich ohne-" Ich unterbrach sie augenblicklich. Meine Worte drangen leise hervor, doch ihre Wirkung war glasklar und schneidend: "Halt den Mund! Das ist Papa! Und wenn du ihn weckst, hast du ein Problem!" Mein Blick fixierte sie mit einer Intensität, die beinahe greifbar wirkte, eine stumme Ansage voller Zorn und Entschlossenheit. Wie konnte sie nur? Eine solch respektlose Bemerkung über ihn, über Varnak. Noch schwerer wog ihre Ignoranz angesichts der Dringlichkeit unserer Lage. Begriff sie wirklich nicht, welche Konsequenzen auf uns lauerten?
"Wir müssen weg. Sofort." Ich griff nach ihrer Hand und zerrte sie hinter mich her, mein Tempo und ob sie mithalten konnte, war mir egal. Wir mussten so schnell wie möglich so weit wie möglich von der Bücherei weg. Und ich musste zurück zum Motel. Varnak war hier, wer weiß wie lange schon. Er würde sich auch bald auf den Weg zum Motel machen. Sobald er das tut, muss ich zurück sein. Und dann war da noch dieser Schatten, den ich gesehen hatte. Das war niemals Varnak. Das war jemand mit Erfahrung. Jemand, der wusste, was er tat, mit einem Ziel. Jemand, der beobachtete, Informationen sammelte. Jemand, der mir, Karlotta oder Varnak auflauerte. Er sah uns, und das war kein Zufall. Wer würde..? Rasp.
Nein. Nein, das war nicht möglich. Er hätte uns doch niemals so schnell finden können.
Draußen brannte die Sonne in meinen Augen, doch ich blieb nicht stehen. Bis wir an dem Fluss ankamen, der sich einmal quer durch Veyth City und naheliegende Städte zieht, fühlte ich beißende Blicke an mir haften. Nicht nur die von Karlotta. Auch der geheimnisvolle Stalker aus der Deadwood Library starrte. Er wollte nicht locker lassen. Und das war meine Schuld. Ich sorgte dafür, dass die Frau von der Rezeption im Motel Rasp informierte, dass Varnak und ich jetzt hier waren. Es war meine Schuld. Es war alles meine Schuld. Ich habe nicht nur mich, sondern auch Karlotta und Varnak in Gefahr gebracht. Wie konnte ich nur so egoistisch handeln? Ich hätte einfach auf Varnak hören sollen. Ich hätte meine Neugier niemals die Kontrolle über mich bekommen lassen.
Am Flussufer kam ich zum Stopp und löste meine Hand von Karlottas. Sie war vollkommen außer Atem, beugte sich vor und stütze ihr Gewicht mit ihren Händen auf den Knien. "Bücherei und Kino. Wenn du mich finden willst, wirst du es da tun. Ich muss jetzt gehen. Und du darfst mir nicht folgen. Verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist. Los! Hau ab!" Warum ich sie anschrie und so harsche Wörter benutzte, wusste ich nicht. Ich war von Angst gelenkt. Ebenso plötzlich wie ich in ihr Leben stolperte, verschwand ich wieder. Ohne Pause rannte ich zum Motel.
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Bound by strings
Teen Fiction"Wieso? Wieso bin ich kein Mensch? Wieso hast du mich erschaffen?" Jolika, eine Puppe, geschaffen um zu gehorchen. Gebaut, um zu töten, um stand zu halten. Gelehrt, was ihr Schöpfer für richtig hielt. Die Sicht des Mannes, welcher die Marionette z...
