'Gehorche'

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Meine starren, hölzernen Finger glitten behutsam über das Glas des Kastens, als wären sie darauf programmiert, jede Unebenheit zu erfühlen. Mein Fokus war unverrückbar, beinahe ungesund intensiv, und die Welt um mich herum schien zu verblassen. Dann, ohne Vorwarnung, griff Varnak meinen Arm mit einer Härte, die keinen Raum für Widerstand ließ. Mit einem abrupten Ruck zog er mich weg, fordernd und endgültig, als hätte er keine Geduld für Erklärungen. Sein Griff war eine stumme Anordnung, keine Bitte. Der überraschende Zug brachte mich zunächst ins Taumeln, doch ich fing mich rasch und folgte ihm wortlos, weil ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich dagegen aufzulehnen. Wir gingen zusammen zurück ins Motel, durch den gedämpften Flur, vorbei an anonymen Türen, bis wir unser Zimmer erreichten, ein vorübergehender Rückzugsort in einer nicht näher definierten Zeitspanne. Mit leiser Stimme entkam mir ein zaghaftes "Entschuldige", ein Versuch des Ausgleichs oder vielleicht nur Selbstschutz. Ob er meinen halben Satz wahrnahm, wird wohl ewig in Dunkelheit bleiben.

Kaum im Zimmer, drängte er mich mit Nachdruck hinein und verriegelte die Tür hinter sich, seine Bewegungen exakt und entschlossen. Sein Blick traf meinen, und die Schwere, die darin lag, ließ keinen Raum für Zweifel: Etwas tobte in ihm. Wut, Enttäuschung und vielleicht sogar Erschöpfung. War diese Müdigkeit mein Werk? Ich suchte fieberhaft nach einem Hinweis in seinem Verhalten, einem greifbaren Zeichen dafür, was ich wieder falsch gemacht haben könnte. Doch das Schweigen sprach lauter als Worte, und wie so oft nahm ich es hin, wie ich all seine Taten hinzunehmen gelernt hatte. Als er näher trat und erneut nach meinem Handgelenk griff, spürte ich keinen Schmerz; Schmerz war für mich eine Abstraktion, bedeutungslos wie eine flüchtige Erinnerung. Körperliche Empfindungen waren mir fremd, doch was mich stattdessen überwältigte, war diese namenlose, drängende Neugier, die sich gnadenlos durch meine Gedanken brannte. 

Ein Verlangen nach Verständnis ergriff mich, intensiv und zugleich vertraut auf seltsame Weise. Erinnerungen tauchten flüchtig auf, wie vor wenigen Stunden bei der ersten Begegnung mit Autos, da hatte mich dieselbe unstillbare Frage nach Erkenntnis durchdrungen. Doch jetzt war es anders. Die Neugier war tiefgründiger, größer, und sie barg eine unheimliche Bedrohung in sich. Sie war nicht zu zügeln, ein mächtiger Strom ohne Anfang und Ende. Es musste mit dieser neuen Umgebung zu tun gehabt haben. Mit Menschen, Tieren, den fremdartigen Gerüchen der frischen Luft und Dingen, die ich zuvor nie gesehen hatte. Alles stürzte auf mich ein wie ein unerwartetes Gewitter, unvorbereitet, überwältigend und unvermeidlich.

Die Sekunden, in denen Varnak mir auf Augenhöhe begegnete, dehnten sich in der bedrückenden Stille des Motelzimmers zu einer gefühlten Ewigkeit. Langsam neigte er sich näher, seine Augen fest auf mir ruhend, als versuche er, einem unausgesprochenen Geheimnis auf den Grund zu gehen. In seinem Blick lag etwas Unergründliches – eine verborgene Wahrheit oder bewusst zurückgehaltenes Wissen, das mir entglitt. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme kalt und hart, doch sie blieb gedämpft, kaum mehr als ein gehauchtes Flüstern. 

 "Du darfst fühlen, Jolika. Aber nicht ohne mich. Nicht ohne meine Erlaubnis. Und niemals gegen mich. Es ist unbedingt nötig, dass du mir gehorchst. Wie oft muss ich das noch wiederholen? Ich kann uns nicht beide retten, wenn du nicht gehorchst."

Für einen Moment regte sich in mir der Drang, etwas zu sagen, doch die Worte blieben unerreichbar. Lag es an Angst, an Respekt oder schlichtweg an der Erschöpfung, die mich davon abhielten? Ich konnte es nicht benennen. Stattdessen fixierte ich ihn nur mit meinem Blick. Keine Einwände, keine erkennbare Regung. Mein Gesicht war wie eine leere Maske, frei von jeglichen Hinweisen darauf, was in mir vor sich ging. Dennoch tobte ein innerer Kampf. Zwei kraftvolle Emotionen kämpften gegeneinander um die Kontrolle: die Neugier auf alles, was er mir bis heute verborgen hatte, und die Reue darüber, dass ich überhaupt neugierig war.

Dann fügte er seiner Aussage eine Bemerkung hinzu, die mein mechanisches Herz in unerwartete Aufregung versetzte. Doch diese kam weder aus Freude noch aus einem Hauch von Glück. Stattdessen erfüllten dunkle Gefühle wie Furcht, tief verwurzelte Angst und das bedrückende Empfinden von Verrat meine Gedanken. Er sprach mit eisiger Schärfe: "Gehorche... oder ich verschenke dich an ein Internat." Diese Worte trafen mich hart, messerscharf und erbarmungslos, nicht als leere Drohung, sondern als ein Versprechen. Eines, das auf unbarmherzige Weise eine bittere Wahrheit enthüllte. Seine Botschaft war eindeutig. Für ihn würde ich irrelevant werden, sollte ich jemals wagen, eigene Schritte in die Richtung von Unabhängigkeit zu gehen. Dieser Gedanke verletzte mich zutiefst, doch ich schluckte den Schmerz hinunter. Welche Wahl hatte ich schon? Ich wollte ihn nicht verlieren, denn für mich war er alles – das Ein und Alles in meinem Leben. 

Nach einem Moment der Stille löste er seinen Griff und trat leicht zurück. Er schob mich voran und ich blieb reglos, zusammengedrängt auf dem fleckigen, abgewetzten Sofa unseres kleinen gemeinsamen Zimmers sitzen. Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich und verschwand hinter einer Tür. Wohin diese führte, war mir zunächst nicht klar, bis ich ein dumpfes Tropfen hörte, das auf Wasser deutete. Vermutlich lag ein Badezimmer hinter jener modrigen Tür, die mich nun von ihm trennte. Was er dort tat, blieb mir unbekannt. Vielleicht folgte er einem seiner menschlichen Bedürfnisse – etwas, das er gerne ohne Umschweife mit "Pissen" bezeichnete. Doch für eine so belanglose Tätigkeit war er ungewöhnlich lange verschwunden.

Die Zeit, in der er verschwunden war, nutzte ich zum Nachdenken - etwas, das ich sonst nie intensiev tat. Ich dachte über ihn, seine Worte und über mich nach. Ich wagte sogar den Schritt, meine bloße existenz in Frage zu stellen. Warum hatte er mich erschaffen? Warum sehe ich so aus, wie ich aussehe? Soll ich einen Menschen aus seinem Leben darstellen, oder ist mein Aussehen purer Zufall? Was verschweigt er mir? Auf eine Antwort kam ich nicht, bevor er wieder ganz plötzlich vor mir erschien. War ich unaufmerksam? Das kann nicht sein. Es ist mir nicht möglich, nicht auf meine Umgebung zu achten. Und dennoch bemerkte ich nicht, wie er das Bad verließ. 

Meine Augen durchbohrten die seine, ein Blick, der auf stilles Misstrauen hindeutet. Und er erwiederte diesen Blick. 540 Sekunden. So lange stand er einfach da und guckte mich an. Als ob er nicht mich, sondern etwas - jemanden - anderes sieht. Was an diesem Abend mit ihm los war, weiß ich bis jetzt nicht. Er verweigerte in den folgenden Wochen jegliche Erklärung. 

Bound by stringsWhere stories live. Discover now