Fehler im System

1 0 0
                                        

Wie jeden Morgen verlief auch dieser Tag ruhig und geordnet, eine Routine, die sich seit unserem Einzug in das neue Gebäude kaum verändert hatte. Varnak verließ kurz die Wohnung, kam nach wenigen Minuten mit einer kleinen Tüte zurück, in der sich ein Brötchen befand, und begann, mit seiner Pfeife zwischen den Lippen sein Frühstück einzunehmen. Während er dort saß, beobachtete ich ihn aus der Nähe, stets ein Auge auf die Straße gerichtet, aufmerksam und bereit, mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen.

Nachdem Varnak sein Frühstück beendet hatte, ging ich davon aus, dass er sich erneut auf den Weg machen würde und ich wie gewohnt ein wenig Zeit für mich hätte. Doch unerwartet änderte sich der Verlauf der Ereignisse. Anstatt wieder hinauszugehen, stand er von seinem Stuhl auf, setzte sich auf das Sofa neben mir, dabei schob er Kissen zur Seite, und zog mich sanft unter den Armen vor sich. Für einen Moment hielt er meinen Blick fest, bevor er mit klarer Stimme zu sprechen begann. Er forderte mich auf, ihm zuzuhören und seinen Anweisungen zu folgen, ohne Widerspruch oder Zögern. Diese Forderung war für mich nichts Neues, da ich es gewohnt war, seinen Vorschlägen und Befehlen zu entsprechen. Kurz nickte ich und erwiderte gelassen mit einem knappen "Okay".

Er nickte, diesmal mit einem Ausdruck, der sowohl Zustimmung als auch eine gewisse Entschlossenheit verriet, und setzte seine Darlegung unbeirrt fort. Dabei erklärte er ausführlich, dass unsere bevorstehende Aufgabe darin bestehen würde, in den kommenden Tagen aktiv nach Rasp zu suchen, dem Bruder von Smirk. Der Plan erschien auf den ersten Blick vernünftig und durchdacht, sodass er unweigerlich in mir den inneren Impuls hervorrief, ihn ohne weiteren Widerstand anzunehmen. Doch gerade als ich diesen Gedanken zu fassen begann, fügte er unvermittelt eine merkwürdige Einschränkung hinzu: Ich dürfe keinerlei Fragen stellen. Diese plötzliche Bemerkung war wie ein Stein, der in einen stillen See fiel und die zuvor glatte Oberfläche meiner Gedanken durcheinanderbrachte. Es fühlte sich an, als ob die Zahnräder meines Verstandes sich langsam in Bewegung setzten und begannen, die Situation aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Instinktiv hob ich meinen Blick und ließ ihn schweifen, zunächst über seine Silhouette, bis meine Augen schließlich die seinen trafen. Die Unruhe, die seine Worte in mir ausgelöst hatten, fand ihren Ausdruck in einem leisen und scheinbar unvorbereiteten „Wieso?" Damit hatte ich die Stille durchbrochen, die für einen Moment zwischen uns geherrscht hatte. Seltsamerweise wusste ich selbst nicht genau, woraus genau sich diese Frage speiste oder auf welchen Punkt seiner Aussage sie sich beziehen sollte. Sie war einfach da, aus einer spontanen inneren Regung heraus geboren.

Varnak schien augenblicklich wie erstarrt. Seine Worte verstummten abrupt, und im gleichen Moment wich jegliche Regung aus seinem Gesicht. Es wirkte plötzlich leer und ausdruckslos, beinahe wie eine unbeschriebene Leinwand. Und dann geschah etwas völlig Unerwartetes, das mich gleichermaßen erstaunte und irritierte. Er hob seinen rechten Arm und schlug sich mit der flachen Hand selbst ins Gesicht. Das schroffe Geräusch des Aufpralls hallte kurz durch den Raum, ehe seine Hand ebenso langsam wieder sank, wie sie zuvor emporgehoben worden war. Bis zum heutigen Zeitpunkt bleibt dieser eigenartige Akt der Selbstbestrafung für mich rätselhaft und unerklärlich. Was könnte ihn dazu bewegt haben, sich selbst auf diese Weise zu verletzen? Augenblicklich kam mir nur eine einzige Möglichkeit in den Sinn. Irgendetwas an meiner Frage oder meiner Reaktion musste ihn dazu veranlasst haben. Mit dieser Ahnung formte sich ein stilles und unangenehmes Gefühl des Bedauerns tief in mir - eine unbestimmte Schuld darüber, möglicherweise der Auslöser für sein Verhalten gewesen zu sein. Also entschuldigte ich mich.

Nach dieser kurzen Unterbrechung, erklärte er weiter seinen Plan. "Wir werden gemeinsam in die Stadt Veyth City gehen. Wir laufen herum, wie Vater und Tochter. Shoppen. Filme schauen. Was auch immer man in einer Stadt wie dieser eben tut. Und während wir das tun... Werde ich versuchen, die Aufmerksamkeit von Rasp auf uns zu lenken." Er pausierte und ließ eine quälende Stille den Raum füllen.

"Du wirst so herumlaufen, wie immer. Unauffällig. Mechanisch. Perfekt. Und ich..." Er ließ seine Worte weiter fließen, doch meine Aufmerksamkeit war längst entglitten und irgendwo im Nichts verloren gegangen. Ein tiefes, dumpfes Summen hatte sich wie eine träge Welle in meinem Kopf ausgebreitet, verdrängte jedes bisschen Interesse und nahm mir jegliche Klarheit. Seine Stimme drang zwar noch schwach zu mir durch, und hin und wieder vernahm ich die Bedeutung einzelner Sätze. Unter anderem, dass er mich als perfekt bezeichnete. Dieses Wort blieb für einen Moment in meiner Gedankenwelt hängen. Perfekt? Es war eine Bewertung, die ich nicht nachvollziehen konnte, geschweige denn teilen wollte. In meinen Augen existiert Perfektion in einer völlig anderen Gestalt, weit entfernt von dem, was ich in mir sah. Sie symbolisiert unerschütterliche Vollkommenheit, unversehrt, stark und unabhängig, frei von Schwäche oder Bruchstellen. Perfektion besitzt nicht nur eine unverkennbare Stärke, sondern auch eine schwer fassbare, beinahe gefährliche Macht, die sich ihrer eigenen Stabilität bewusst ist.

Und ich? Ich befand mich Lichtjahre entfernt von solch einer Definition. Dennoch brannte in mir der unaufhaltsame Wunsch, dieser idealisierten Perfektion näherzukommen. Es war ein Verlangen, das sich mit stiller Beharrlichkeit in meinen Geist gegraben hatte, doch gleichzeitig musste ich mir eingestehen, wie unberechtigt dieses Streben war. Solche selbstzentrierten Vorstellungen hätten keinen Raum bekommen dürfen, dessen war ich mir durchaus bewusst.

Etwas in mir hatte sich verändert, tief im Innersten war eine neue Realität geboren worden, die ich zunächst gar nicht bemerkte. Es war keine plötzliche Umwälzung, kein lautes Signal. Sie kam schleichend und langsam näher, bis sie mich schließlich ganz einnahm. Wenn ich heute zurückblicke, scheint es geradezu unvermeidlich, dass jener Tag im Haus - jener Tag mit der Leiche - der Ursprung dieser Verwandlung gewesen sein muss. Seit diesem Moment fühlte ich eine innere Verschiebung, ein Wachstum von etwas Neuem und Ungewohntem, das ich mir nicht erklären konnte. Nicht nur mein Bewusstsein schärfte sich in einer neuen Intensität, sondern auch ein Gefühl von Trotz begann in mir zu wurzeln und zu wachsen. Doch war diese Entwicklung gleichermaßen unerwünscht und unpassend. Sie hätte nicht geschehen dürfen.

Inmitten dieses inneren Chaos blieb ich äußerlich stumm. Kein einziges Wort passierte meine Lippen, bis der Fluss von Varnaks Rede irgendwann versiegte und seine Stimme schließlich verstummte. "Okay", erwiderte ich mit einer knappen, fast mechanischen Ruhe und begleitet von einem kaum erkennbaren Nicken. Mein Gesicht wirkte dabei merkwürdig reglos, wie eine Maske ohne Leben. Es zeigte weder ein Lächeln noch ein Stirnrunzeln oder irgendeine Spur von Emotion. Stattdessen breitete sich eine tiefgründige Leere über meine Züge aus, so dicht und undurchdringlich wie die Schatten der Nacht.

Bound by stringsWhere stories live. Discover now