Nachdem er nach draußen verschwunden war, erhob ich mich langsam. Ohne zu zögern ging ich zur kleinen Küchenzeile, griff nach einem scharfen Messer und schob es sicher in meinen Ärmel. Eine Vorsichtsmaßnahme, nur für den Fall der Fälle. Meine Finger schlossen sich fest um den Griff, während ich gedankenverloren einige Male im Raum auf und ab ging. Schließlich setzte ich meinen Fischerhut auf, atmete einmal tief durch und streckte die Hand nach dem Türknauf aus. Diese eine Tür war alles, was zwischen mir und der Welt draußen stand. Ich musste sie nur öffnen. Doch ein Moment des Zauderns machte sich breit; es war keine kleine Aufgabe, diese Schwelle zu überschreiten. Mut, das war es, was ich brauchte. Mut und die Fähigkeit, meine inneren Zweifel zu überwinden.
Draußen begrüßten mich helle Sonnenstrahlen, die mir direkt ins Gesicht fielen und meine Augen zwangen, sich anzupassen. Reflexartig zog ich den Hut tiefer ins Gesicht und ließ meine Blicke kurz zum Himmel wandern. So weit und klar erstreckte er sich, voller Schönheit und Ruhe. Vögel zogen ihre Bahnen zwischen weichen Wolken, während ich den Klang der Welt um mich herum aufsog: entferntes Stimmengewirr, das vertraute Geräusch von Motoren, die über den Parkplatz ratterten oder am Motel vorbeifuhren. Ein sanfter Wind spielte mit meinen schwarzen Zöpfen, ließ sie leicht flattern und verstärkte das Gefühl von Lebendigkeit in diesem Moment.
Ein leises Lächeln breitete sich langsam auf meinem Gesicht aus, während ich mit einem kurzen Hüpfen die Treppe hinunter ging, ein kurzer Moment der Unbekümmertheit. Vor dem Hauptgebäude des Motels angekommen, drückte ich die Tür auf und trat hinein. Dort war sie: die Frau, die heute mein Ziel sein würde. Meine Begrüßung kam leise, fast scheu über meine Lippen: "Hallo." Hinter mir schloss sich die Glastür mit einem sanften Klang, und sofort legte sich Stille über den Raum. Das einzige, was zu hören war, war das gemächliche Ticken einer Uhr an der Wand hinter ihr. Eine gedämpfte Geräuschkulisse, die fast beruhigend wirkte.
"Guten Morgen, junge Dame. Wie kann ich dir denn helfen?", fragte die Frau. Ihre Stimme klang weich, beinahe wie ein Wiegenlied, doch in ihren Augen lag ein prüfender Schimmer, der nicht zu ihrem Ton passte.
Ich versteckte mein Gesicht unter dem Hut, starrte auf den Boden und tat so, als sei ich traurig, naiv und hilflos. "Ich hab hier vor ein paar Wochen mit meinem Papa eingecheckt… Aber mein Bruder wollte eigentlich noch nachkommen. Er ist nie aufgetaucht. Kennst du—"
Ich brach ab. Anstand und Respekt waren wichtig, um zu bekommen, was man wollte, hatte Varnak gesagt. Nach einem kurzen Räuspern fuhr ich fort: "’tschuldigung, kennen Sie ihn vielleicht?"
Die Frau verschränkte die Arme. "Wie heißt er denn? Vielleicht hat er sich ja im Zimmer vertan."
"Rasp. Er heißt Rasp", murmelte ich. "Papa hat mir gesagt, dass er in einer Gang ist. Vale’s Thalassa…?"
Ihre Lippen zuckten. Ein Ausdruck, halb Lächeln, halb etwas anderes. "Ah. Rasp." Sie sprach den Namen so aus, als koste sie ihn auf der Z warten. kann ich dir nicht helfen, Kleine. Ein Gangmitglied hier bei mir? Das wäre mir sofort aufgefallen. Und mit solchen Leuten halte ich mich nicht gerne auf."
"Aber wissen Sie, wo ich ihn vielleicht finden kann?", fragte ich vorsichtig. "Ich und Papa sind neu in dieser Gegend."
"Neu, hm?“ Sie musterte mich, als wollte sie hinter meine Maske sehen. "Die Vale’s Thalassa treiben sich meistens im Stadtzentrum von Veyth City herum. Aber glaub mir – du bist besser dran, wenn du sie nicht findest." Dann beugte sie sich leicht nach vorne. "Sag mal… warum willst du deinen Bruder überhaupt sehen, wenn er sich mit solchem Abschaum eingelassen hat?"
"Rasp ist halt mein Bruder", sagte ich leise. "Ich vermisse ihn. Naja… falls Sie ihn treffen, sagen Sie ihm bitte, dass ich und Papa im Zimmer 7 sind. Sagen Sie einfach, Jolika hat eine Rechnung mit ihm offen."
Die Frau lächelte. Dieses Mal war es kein freundliches Lächeln – es wirkte wissend, vielleicht sogar ein wenig spöttisch. "Eine Rechnung, hm? Soso." Sie nickte langsam. "Wenn er mir über den Weg läuft, richte ich’s aus. Ich treffe… nun ja, die richtigen Leute manchmal schneller, als mir lieb ist."
Ihre Augen glitzerten dabei, als hätte sie längst verstanden, dass ich mehr wusste, als ich zugab, und dass sie selbst noch mehr verschwieg.
Trotz ihrer reservierten Art gelang es mir, sämtliche Informationen zu beschaffen, die ich brauchte. Nachdem ich das Gespräch mit der Frau beendet hatte, verließ ich das Gebäude zunächst, nur um anschließend einen Umweg zu machen. Ich ging einmal um das Haus herum und kletterte durch ein offenes Fenster zurück ins Innere. Wieder drinnen machte ich mich auf den Weg zur Rezeption.
Auch wenn ich Varnaks konkretes Ziel nicht vollständig erreichen konnte, war meine Aktion dennoch hilfreich. Sein Vorhaben bestand darin, Rasp aufzuspüren und mit meinem kleinen Schachzug hatte ich ihn direkt in unsere Nähe gelockt. Hinter einer Ecke verborgen wartete ich und hörte aufmerksam zu, wie die Frau eine Telefonnummer in ihr Telefon eintippte. Kurz darauf sprach sie exakt die Worte aus, die ich erhofft hatte. Am Telefon informierte sie, dass Jolika, also ich, eine offene Rechnung mit Rasp hätte, und nannte sogar das Zimmer, in dem ich mich aufhielt.
Es überraschte mich nicht, denn schon als ich sie das erste Mal sah, hatte ich längst bemerkt, dass sie irgendwie in Verbindung mit dieser Gang stand. Ihre Zugehörigkeit war derart offensichtlich, dass es fast schmerzte. Mit einem zufriedenen Lächeln machte ich mich zurück auf den Weg zu unserem Zimmer. Dort schaltete ich den Fernseher ein und vertiefte mich daneben in das Buch, das Varnak mir geschenkt hatte. Nun hieß es, einfach abzuwarten.
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Bound by strings
Teen Fiction"Wieso? Wieso bin ich kein Mensch? Wieso hast du mich erschaffen?" Jolika, eine Puppe, geschaffen um zu gehorchen. Gebaut, um zu töten, um stand zu halten. Gelehrt, was ihr Schöpfer für richtig hielt. Die Sicht des Mannes, welcher die Marionette z...
