Rasende Glühwürmchen

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Sie liefen seit rund einer Stunde durch den endlosen Korridor. Alle zwei- bis dreihundert Schritte zweigten identische Gänge nach links und rechts ab. An Kreuzungen fanden sich kurz unter der Decke, oberhalb der bräunlichen Streifens, aufgesprühte Markierungen. »C-X-284« lautete die letzte. Die an der aktuellen Abzweigung »B-X-284«. Was ihn wohl bei »A« erwartete? Die Logik erinnerte an den Bunker. Dort orientierte man sich ebenfalls mithilfe eines Koordinatensystems, allerdings waren die Schriftzüge damals gut sichtbar auf Brusthöhe angebracht gewesen und nicht unter der Decke. Außerdem gab es dort überall Versorgungsleitungen für Strom, Wasser, Luft und Kommunikation. Hier existierte nichts von alledem. Kein Wunder: Angeblich war das hier ein Kanal, der früher zu einer Bewässerungsanlage gehörte.

Von hinten rief Roger: »Stopp, Chummer. Wir teiln uns auf. Du gehst mit Sue unmir weiter. Was wa vorhabn, is ne heiße Kiste. Die andern kenn ihr Ziel.«

Melvin war im Grunde erleichtert. Pam und Elliot, hatten bisher nicht mehr als das Nötigste gesprochen. Ob aus Angst vor seiner Reaktion, falls sie über die wahren Geschehnisse berichteten, oder ob das einfach ihre Art war, wusste er nicht zu sagen. Damit bestand zumindest nicht mehr die Gefahr, dass sie ihn als Mordmaschine darstellten.

»Die du ja bist. Eine durchgeknallte Monster-Mordmaschine.«

Woran er – und mit diesem Gedanken übertönte er die lästige KI – nach wie vor keine Erinnerungen hatte. Vielleicht war es ja auch ganz anders gelaufen. Eventuell hatte seine KI die Kontrolle über seinen Körper übernommen und selbst die Morde begangen?

»Wenn das so einfach wäre, hätte ich dich schon längst an der nächsten Militärbasis abgeliefert. Meinst du nicht?«

Außerdem hatte sie ihm den Sauerstoff abgedreht, um ihn auszuknocken oder direkt zu töten. Da sie die Sauerstoffversorgung kontrollieren konnte, warum nicht auch den Rest?

»Du suchst nur nach Ausreden. Sieh es doch ein: Du bist ein psychopathischer Mörder und brauchst Hilfe. Du solltest dich endlich stellen. Das wäre die beste Lösung. Außerdem geht dir bald die Ladung aus.«

Hm ... so richtig wurde er aus dem Teil nicht schlau. Mal bequatschte sie ihn und sabotierte seine Bemühungen, dann half sie zwischendurch, wenn es ihr in den Kram passte. Und ein Psychopath war er ganz sicher nicht. Denen fehlte das Mitgefühl für ihre Mitmenschen. Sie konnten sich nicht in andere hineinversetzen. Sie quälten und töteten aus Gründen, die für empfindsame Menschen – wie ihn – unverständlich blieben. Das sollte seine Psycho-KI eigentlich besser wissen.

Nachdem die anderen nach links abgebogen waren und sie seit einer Weile marschierten, war die Restladung laut seinem Armdisplay auf magere zehn Prozent gesunken.

»Roger«, fragte Melvin daher, »wie weit ist es noch? Wir sind schon eine Stunde unterwegs und bei mir wird es langsam eng. Vermutlich kommen wir ja nicht direkt in den Shadows raus, oder?«

»Nee, komm wa nich, Chummer«, antwortete der Bärtige und spuckte auf den Boden. »Aber wir sin gleich da. Wenn alles glatt läuft, biste inner Stunde innen Schatten. Eine Hand wäscht de andere. Das hamm wa ja abgemacht.«

Vor ihnen schälte sich eine Betontreppe aus der Finsternis, die aufwärts führte. Die ersten Stufen überhaupt, die er hier sah. Bisher waren sie komplett ebenerdig unterwegs gewesen und bis auf drei Knicke im Gang nahezu geradeaus marschiert. Nicht nur die Optik änderte sich. In der Luft lag eine spürbare Feuchtigkeit, die sich auch an Wänden und Decke niederschlug. Außerdem meinte er, ein Gluckern zu vernehmen, das ihn an die Wasserleitungen im Bunker erinnerte. Als Wartungstechniker hatte er sie oft genug reparieren müssen, da sie für ihr Überleben essenziell waren. Damals hatte er noch gedacht, dass die Rohre hundert Jahre alt seien und es kaum Ersatzteile gäbe. Dabei war das alles nur eine Lüge gewesen. Die Betonwände waren aus hartem Pappmaschee und sie hatten sich nicht unter der Erde befunden, sondern im Inneren eines Hochhauses. Auch waren sie dort nicht allein gewesen. Fortwährend hatten sie Milliarden voyeuristischer Zuschauer in Livestreams begafft, von denen die anderen Bewohner und er nichts geahnt hatten. Eigentlich war es erstaunlich, dass ihn keiner der hier Anwesenden erkannt hatte. Beim Militär war ihm das mehrmals passiert. Nur, dass er sich zu dieser Zeit nicht an seine Vergangenheit hatte erinnern können und es vehement als Irrtum abgetan hatte. Aber wer weiß, wie die hier in den Tunneln lebten, vielleicht hatten sie ebenfalls keine Streams oder ihnen fehlte die Technik. Ihre Ausrüstung war jedenfalls komplett mechanisch und ohne Elektronik. Keine taktischen Headsets. Noch nicht mal Funk. Nur die Sturmgewehre waren Modelle, wie sie auch das Militär einsetzte. Das konnten allerdings schlicht Beutestücke sein.

Das Monster Emeralds (ONC 2024)Where stories live. Discover now