V. Kapitel

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Alberta, Kanada
28. Dezember

  
   Skye

   Da klopft es zaghaft an der Tür.

   „Skye?“, höre ich Leas sanfte Stimme.
  
   Die Besorgnis schwingt in ihren Worten mit und überbrückt die schwere Holztüre zu meinem Zimmer.

   „Ist alles gut bei dir da drin?“

   Ich könnte mich vor dieser Dummheit, die ich später bereuen werde, retten.
   Indem ich Lea bitte hereinzukommen.
   Indem ich Lea erzähle, wie ich mich fühle.
   Indem ich Lea bitte, mich ganz fest in den Arm zu nehmen und nie wieder loszulassen.

   Doch ich kann nicht, denn in einer Woche wird sie wieder weg sein und mich hier alleine lassen und dann werde ich noch viel, viel tiefer fallen.

   Wenn ich jetzt Nähe zulasse, dann werde ich wieder rasend schnell in diesen Strudel hineingezogen, der sich nur noch um Lea dreht, als wäre ich die Erde und sie meine Sonne, von der jegliches Leben abhängt.
  
   Und Lea, die endlich ein Leben außerhalb dieser verdammten Kleinstadt und dieser kranken Familie aufgebaut hat, wird mit mir in den Abgrund gezogen.
  
   Co-Abhängigkeit nennt man das auch laut Ms. Eschweiler.

   Ich atme tief durch, meine Hand krampft sich um das Feuerzeug wie um einen rettenden Anker, während ich die Rettungsleine, die Lea mir zuwirft, mit aller Kraft ignoriere.

   „Alles gut Lea, ich war schon fast am Schlafen.“

   Kurze Stille, dann gedämpft: „Ich bin für dich da, Skye.“

   Mein Herz zieht sich zusammen, diese Worte schmerzen mehr als hundert Rasierklingen.

   „Gute Nacht, Lea“, erwidere ich mit rauer Stimme und beiße mir in die Wange bis ich Blut schmecke.

   Jetzt.
  
   Ich muss jetzt das Feuerzeug benutzen, sonst zerreißt es mich innerlich.

   Leas Schritte entfernen sich von meiner Tür und mit einem Zischen entzündet der Funke das Gas und eine kleine Flamme erhellt die Dunkelheit.   
  
   Es funktioniert also noch.
  
   Einen Moment starre ich die orange-rote Flamme an und ich will nichts lieber als sie auf meine Haut zu drücken.
   Ich muss mich spüren, muss den brennenden Schmerz von verbrannter Haut spüren, damit der unerträgliche Schmerz in meinem Kopf aufhört.

   Nein.

   Ich darf nicht.

   Ich will nicht dorthin zurück.

   Ich will das Monster nicht füttern.

   Aus einem Impuls schleudere ich das Feuerzeug so weit weg von mir wie möglich, sodass es gegen meine Zimmerwand prallt.

   Dann drehe ich mich auf der Stelle um und laufe zum Fenster.
   Reiße das Fenster auf und eiskalte Nachtluft weht mir ins Gesicht. 
   Ich steige auf das Fenstersims und die kalte Luft sticht auf meiner Haut wie kleine Nadeln, die mir Linderung verschaffen.

   Für einen Moment stelle ich mir vor, ich würde auf dem Dach eines riesigen Hochhauses stehen, hunderte Meter unter mir eine verlassene Straße.

   Ich breite meine Flügel weit aus und Ruhe überkommt mich.

   Dann lasse ich mich nach vorne fallen.

ASH & SKYEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt