I. Kapitel

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Alberta, Kanada
28. Dezember

   Ash

   Wie brennende Ascheflöckchen, die in den Himmel hinaufgewirbelt werden - so fühlt es sich an, als wir uns zum ersten Mal sehen.
   Als unsere eigene kleine Welt zum Leben erweckt wird.
   Als aus Skye und Ash ein Du und Ich wird.

   Ich sehe Dich zum ersten Mal, als ich an Eurem Küchentisch sitze und auf Lea warte, die auf der Toilette verschwunden ist.
   Der Duft nach Zimtschnecken, die Deine Mom heute Morgen gebacken hat, liegt noch in der Luft und ich sippe gerade an meinem Tee, als Du die gewundene Holztreppe herunterkommst.

   Ich höre das Knarzen der Treppenstufen und wende meinen Kopf.

   Dünne Beine in schwarzen Strumpfhosen.
   Mit jedem Schritt sehe ich mehr von Dir: Überdimensionaler schwarzer Hoodie, der den Rest Deines Körpers versteckt.
   Als wolltest Du nicht gesehen werden.
   Als wolltest Du niemanden reinlassen, um Dich zu schützen.
   Deine blassen Hände sind so weiß wie der Schnee der draußen in großen Flocken fällt.
   Dein Hals ist anmutig geschwungen wie ein Schwanenhals, zerbrechlich und elegant.
   Und dann Dein Gesicht.

   Wir schauen uns direkt in die Augen und Du zeigst keine einzige Emotion.
   Ich sehe die Ähnlichkeit zwischen Dir und Lea und trotzdem sind es die Unterschiede, die mir am meisten auffallen.
   Obwohl ihr beide diese eigenwillige, fast trotzige Oberlippe, die filigran geschwungenen Augenbrauen und das spitze Kinn teilt, siehst du ganz anders aus als sie.
   Vielleicht liegt es aber auch nur an deinem Gesichtsausdruck...
   Wo bei Lea immer ein freundliches und offenes Lächeln liegt, ist bei Dir nur eine weiße Wand, die jeden und alles ausschließt.
   Was Du wohl dahinter versteckst?

   Und dann sind da noch Deine Polarfuchs-Augen.
   Groß, eisblau und kalt wie die kanadische Winternacht.
   Jetzt fixieren sie mich wie einen unliebsamen Eindringling in Deinem Revier.

   Du kommst runter und ohne ein Wort läufst Du zur Spüle um Dir ein Glas Wasser einzuschenken.
   Du sendest Wellen der Verwirrung durch meinen Körper, weil Du mich mit jeder Faser deines Seins ignorierst.
   Auch wenn sich das jetzt sicherlich sehr eingebildet anhört, aber ich bin es nicht gewohnt, ignoriert zu werden.
   Jedenfalls nicht von weiblichen Geschöpfen.
   Du lehnst Dich mit Deinem zierlichen Körper an die Anrichte und starrst mich weiter an, während Du aus Deinem Glas trinkst.

   „Ich bin Ash", würge ich die Worte hervor. „Leas neuer Freund."

   Du fixierst mich einen weiteren kurzen und dennoch ewig langen Moment.

   „Das hab ich mir schon gedacht."

   Das ist alles, was Du sagst.
   Deine Stimme ist kalt, rau und abweisend wie die Rocky Mountains, in denen ich früher so gerne mit meinem Dad klettern gegangen bin.

   Und dann fügst Du doch noch etwas hinzu:
   „Ich will eines klarstellen: Wage es nicht, meine Schwester zu verletzen - niemals. Ich kann ganz schön psycho werden wenn ich sie vor Typen wie Dir beschützen muss."

   Kurze Pause, in der Dein Blick alle meine Gedärme zu Eis erstarren lässt.

   „Du kannst mich Skye nennen."

   Perplex starre ich Skye an, sie ist vielleicht fünfzehn oder sechzehn, und trotzdem glaube ich ihr aufs Wort.

   In dem Moment spüre ich Leas Präsenz wie eine Lavendelduftwolke in den Raum schwappen. Oder wie einen sonnigen Frühlingstag.

   „Skye! Ich wusste nicht, dass Du da bist. Ich dachte, um diese Uhrzeit hast Du ..."
   Lea bricht mitten im Satz ab und wirft mir einen unsicheren Blick zu.

   „Ich geh da nicht mehr hin", schnauzt Skye und auf einmal ist ihre Miene gar nicht mehr so ausdruckslos, stattdessen braut sich ein heftiges Gewitter zusammen.

   „Wie bitte? Das haben wir doch schon so oft diskutiert!"

   Lea umrundet den Tisch ohne mich weiter zu beachten und nimmt den Arm ihrer Schwester.
   Skye schnellt zurück, als hätte sie sich verbrannt und weicht vor Lea zurück.
   Dabei stößt sie mit dem Arm an das Wasserglas, welches in einem ohrenzerberstenden Geräusch auf dem Boden in tausend Glasscherben zerspringt.
   Ich sehe den Schock, der sich gleichermaßen in Leas und Skyes Gesicht widerspiegelt.

   Dann murmelt Skye: „Das ist meine Entscheidung, klar? Und fass mich nicht wieder einfach so an."

   Und dann nimmt Skye Reißaus und flüchtet nach oben.
   Genauso schnell, wie sie gekommen ist, ist sie auch wieder weg, als wäre sie nur ein Geist oder eine Art Fatamorgana gewesen.
   Das einzige, was sie hinterlässt, ist ein Haufen Scherben.

   Ich erhebe mich, um einen Besen und eine Schaufel zu holen.

ASH & SKYEWhere stories live. Discover now