Kapitel 31 - Briefe

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„Paul", brummte er schließlich verbittert und gewann damit doch wieder meine Aufmerksamkeit. „Lass' dir eines gesagt sein. Die Frauen sind unser Untergang. Da gibt man vergebens so viele Jahre seines Lebens her und das ist der Dank!"
Wütend krallte er seine Hand erneut über dem Stück Papier zusammen.

„Wenn du im Leben eines lernen musst, dann aus Vorsicht kalt zu sein, Junge. Ansonsten endest du eines Tages genauso wie ich. Die Welt ist voll Lügen und Verrat, da kommst du mit offenem Herzen nicht weit. Schließ' es am besten in Eisen ein, vielleicht hast du dann 'ne Chance."

Diese Lebensweisheiten bekam ich nicht zum ersten Mal zu hören. Seitdem meine Mutter uns Hals über Kopf sitzen gelassen hatte, bekam ich diese Ratschläge fast täglich. Doch auch ohne seine Worte hätte ich meine Lektion längst gelernt – ein Blick auf den einst so selbstbewussten und zufriedenen Mann mir gegenüber genügte.

Niemals wollte ich so enden.
Ich hatte mir geschworen, in meinem Leben immer die Kontrolle zu behalten, stets die Oberhand zu haben und niemandem je die Chance zu geben, mich dermaßen zu brechen.

Heute wusste ich, wie verletzlich es machte, sein Herz zu öffnen, doch genauso wusste ich auch, wie einsam es machen konnte, sein Herz so konsequent zu verschließen.
Es erforderte Mut, sich der Welt zu zeigen – und den hatte ich zu spät gefunden.

„Dein Dad ist einfach nur enttäuscht und verbittert", hörte ich Jakes Stimme in meinen Gedanken. Wie immer in Wolfsgestalt hatte er an meinen Gedanken teilhaben dürfen, oder vielleicht auch müssen. „Kein Wunder, dass er einen Nervenzusammenbruch hatte."

Tatsächlich war mein Vater in den letzten Wochen nicht nur an seine Grenzen, sondern darüber hinaus gegangen. Nach seinem stressbedingten Hörsturz, den er ignoriert hatte, hatte er schließlich einen kompletten Nervenzusammenbruch erlitten und war seither auf Reha.
Traurigerweise hatte ich jedoch noch nicht einmal die Kraft, mich um ihn zu sorgen, so sehr vernebelte mir mein eigener Schmerz den Blick.

„Das weiß ich heute auch", gab ich brummend zurück.
Jake war derzeit der Einzige, den ich in meinen Gedanken akzeptierte und auch die Erlaubnis einräumte, diese zu kommentieren.
Zwar war ich immer noch der Überzeugung, dass sein Drama mit Bella lange nicht so tiefschürfend war, wie mein Verlust von Julie, doch seitdem Bella allen Ernstes entschieden hatte, ein Vampir zu werden zu wollen, war er in ein Loch gefallen, das zumindest annähernd so tief war wie das meine. Seine düsteren Gedanken zumindest machten meinen Konkurrenz.

An diesem Tag jedoch war es nicht nur Jakes Stimme, die in meinem Kopf widerhallte.
„Leute, mobilisiert eure letzten Kräfte und kommt zur Hütte. Ihr seid immer noch Teil des Rudels und wir werden gebraucht. Besonders dich, Jake, sollte das interessieren."

Wo auch immer sich Sam im Moment aufhielt – er schien aufgebracht zu sein. Besonders was mich betraf, hatte er in den letzten Monaten stets darauf geachtet, mich nicht zu belasten und auch nur dann an mich heranzutreten, wenn es wirklich notwendig war.
Eine solche Situation war nun wohl eingetreten.

Neben der Prägung gab es eben doch noch etwas, worüber ich keine Macht hatte – das Pflichtbewusstsein gegenüber meinen Brüdern und meiner Schwester.

Abrupt wendete ich also und meine Pfoten gruben sich bei diesem plötzlichen Richtungswechsel in den kühlen Waldboden, ehe ich wieder zwischen den Bäumen hindurchjagte und, genau wie Jake, den kürzesten Weg zu Emilys und Sams Hütte nahm.

– Julie –

Los Angeles, Mai 2010

Seit drei Monaten lebte ich inzwischen in LA und jeden Morgen, wenn ich die Vorhänge des kleinen Appartements, das ich mit Dillon bewohnte, aufzog, warf ich einen prüfenden Blick gen Himmel.
Etwa vier Mal hatte ich es erlebt, dass hier Regen gefallen war – ansonsten stand die Sonne konsequent und gnadenlos strahlend über Los Angeles.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now