Kapitel 24 - Wendungen

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Erst als dann Jake und Paul durch die bereits offene Türe traten, riss ich meinen Blick wieder von dem Paar los und starrte stattdessen auf die beiden Neuankömmlinge.
Lediglich mit Shorts bekleidet, kamen sie Seite an Seite herein und schienen nicht im Geringsten Streit zu haben.

„Ha!", kam es auf der Stelle triumphierend von Embry, der mit vollem Mund auf Pauls Arm zeigte.
Erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen großen, jedoch beinahe verheilten Kratzer an Pauls Arm.
Ich für meinen Teil war schon froh, dass die beiden überhaupt an einem Stück zurückgekommen waren.
„Du hast gewonnen, Jake, nicht?"

Stolz nickte Jacob, als er auf Embry zuging und sich ebenfalls einen Muffin genehmigte.
Dann sah er sich prüfend im Raum um, bis er an Bella und mir hängen blieb – allerdings galt sein Blick mehr Bella als mir, das war mir selbst in meinem zerstreuten Zustand aufgefallen.

Ganz im Gegensatz dazu stand Paul nach wie vor im Türrahmen und starrte mich prüfend an.
Seit meiner Rückkehr war es immer schon schrecklich unangenehm gewesen, ihm zu begegnen, doch diese Situation hob das Ganze auf eine ganz neue Ebene.

Sein Blick war bohrend, bedauernd und sanft zugleich. Was jedoch unverändert blieb, war diese Intensität, mit der er mich jedes Mal beobachtete.

„Tut mir leid, ihr zwei", brachte Jacob willkommene Ablenkung, indem er die Stimme erhob. „Ich hoffe, wir haben euch nicht zu sehr erschreckt. Wie geht's euch?"

Bei dieser Frage ließ selbst Sam kurz von Emily ab und wandte sich stattdessen interessiert den Gästen des Hauses zu.

„Wir werden es verkraften", hörte ich Bellas zuversichtliche Antwort, bevor sie wieder in ihren Muffin biss.
Ob ich diese Aussage tatsächlich unterschreiben konnte, wusste ich noch nicht so recht, doch Sam schien erleichtert über Bellas Optimismus zu sein.

„Sehr gut", seufzte er. „Das alles war natürlich ganz und gar nicht so geplant, wie es gelaufen ist, allerdings haben wir damit endlich die Möglichkeit, offen zu sprechen."
Offen sprechen – das war vielleicht etwas, das wirklich endlich von Vorteil wäre.
„Wir müssen über die Vampir-Nomaden, oder besser gesagt die Rothaarige sprechen."

Wie so oft hatte ich keine Ahnung, wovon in diesem Raum die Rede war. Doch – ebenfalls wie so oft – schien ich wieder einmal die Einzige zu sein.

„Julie."
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich meinen Namen hörte – und das auch noch aus Sams Mund.
„Auch du hast bestimmt viele Fragen, aber das hier ist wirklich dringend", versuchte er behutsam auf mich einzureden.
„Du kannst gerne mit Paul nach draußen gehen. Er wird dir alles beantworten, was du wissen willst."

Automatisch wanderte mein Blick wieder zur Haustür, wo Paul immer noch in seiner Position verharrte.
Er schien gespannt meine Reaktion abzuwarten, rührte sich jedoch keinen Zentimeter.

Hilfesuchend wandte ich mich dann wieder zu Jake. Zwar hatte er mich in letzter Zeit ebenso enttäuscht, wie auch all die anderen in diesem Raum, doch nach allem, was ich heute gesehen hatte, gab es womöglich auch gute Gründe dafür.

„Keine Sorge, Julie", seufzte Jacob und sah mich bestärkend an. „Ich würde dir deine Fragen auch beantworten, aber –"
Er warf einen vielsagenden Blick auf Bella.
„Man braucht mich hier. Aber vertrau mir, wenn ich dir sage, dass Lahote der Richtige ist, um dir all das zu erklären."

Zweifelnd wandte ich mich wieder Paul zu.
Vielleicht waren es Jakes Worte, denen ich Glauben schenkte, vielleicht war es aber auch nur meine quälende Neugierde und das Verlangen danach, endlich zu verstehen – das nächste, was ich wahrnahm, war mein resigniertes Schulterzucken und ehe ich mich versah, stand ich auf den Beinen und ging auf Paul zu.

Ich war direkt an ihm vorbeispaziert, hinaus ins Freie und genoss einmal mehr die kühle, frische Luft, die mir dort entgegenschlug.
Sie war so belebend, obwohl mein Körper ohnehin bis oben hin mit Adrenalin vollgepumpt war.

Es war verrückt, wie schnell ein Tag und damit das gesamte Leben eine solche Wendung nehmen konnte.
So lange hatte ich mir geschworen, keine Minute mehr mit Paul Lahote zu verbringen und war mir sicher, dass es nicht den Hauch eines Grundes geben könnte, jemals wieder Zeit mit ihm zu verbringen.
Doch plötzlich war ich hier und stieg über die riesigen Wurzeln im Wald um Emilys Hütte – mit Paul Lahote im Schlepptau.

„Julie!", hielt er mich mit bestimmender Stimme auf, nachdem Emilys Hütte noch nicht einmal mehr in Sichtweite war.
Ich musste angefangen haben zu Laufen und war in meinem Wahn nicht mehr Stehen geblieben.
Erst als ich Pauls Stimme hörte, blieb ich wie angewurzelt stehen.
„Wir sollten nicht so weit in den Wald hineinlaufen, bleib hier."

Augenblicke später stand Paul unmittelbar vor mir und sah ernst auf mich hinab.
Seine Augen waren beeindruckend. Ich fragte mich, ob sie jemals ihre Wirkung auf mich verlieren würden.
„Komm mit."
Willenlos folgte ich Paul, ohne lange darüber nachzudenken. Für heute hatte ich meine Vernunft und das logische Denken aufgegeben.

Stattdessen folgte ich ihm zu einer kleinen Lichtung im Wald, wo einzelne umgestürzte Baumstämme dazu einluden, sich niederzulassen.
„Setz dich", bot mir Paul seufzend an, als er sich auf einen davon setzte und mich erwartungsvoll ansah.

In seinen tiefen, dunklen Augen war unschwer zu erkennen, dass er mindestens genauso unsicher und aufgewühlt war, wie ich selbst.
Schweigend ließ ich mich dennoch auf dem Baumstamm, wenn auch mit reichlich Sicherheitsabstand, nieder.

Es herrschte ein unangenehmes, schweres Schweigen zwischen uns.
Mir lagen so viele Fragen auf der Zunge, doch keine ließ sich vernünftig formulieren, ohne dass ich an meinem Geisteszustand zweifeln musste.

„Irrer Tag, was?", brachte es Paul schließlich nach reichlich Zögern treffend auf den Punkt. „Wie geht es dir?"
Es war keine Floskel, auch kein verzweifelter Versuch, die Stille zu brechen – nein, stattdessen klang Paul erschreckend aufrichtig, besorgt und einfühlsam.
Es war ehrliches Interesse, das in seiner Stimme und auch in seinen Augen lag.

„Naja", zögerte ich ebenfalls und versuchte mir über die Antwort dieser Frage selbst klar zu werden. „Es war alles ein bisschen – ein bisschen sehr viel."
„Das verstehe ich", lachte Paul trocken auf und starrte nachdenklich auf seine Hände.
„Es tut mir leid. Also, mir tut eine ganze Menge leid, aber heute entschuldige ich mich in erster Linie dafür, dass ich dich so erschreckt habe. Das war absolut nicht meine Absicht."

Ehrlich hob er seinen Blick und sah mir ohne Umschweife in die Augen.
Vor meinem inneren Auge flackerte sofort wieder diese Szene auf, wie sich sein Körper in dieses haarige Monster verwandelt hatte.
„Die Legenden sind also wahr", murmelte ich zusammenhangslos vor mich hin, ohne auf Pauls Worte einzugehen. „Seid ihr also alle.. also jeder um Sam ist ein..."

„Ein Gestaltwandler, ja", bemühte sich Paul, mir meine Skepsis zu nehmen und nickte deutlich.
Er schien zu ahnen, wie viele Fragen in mir warteten gestellt zu werden, also entschied er sich wohl dazu, vorerst frei zu erzählen.
„Außer Emily und Bella jeder dort drinnen, ja. Als du in London warst, hat sich Sam als Erster hier verwandelt. Er ist unser Alpha und versucht hier jeden, der neu zum Rudel stößt, an seine ungewöhnliche Rolle zu gewöhnen. Dazu gehört eben unter anderem auch, dass man seinen alten Freundeskreis hinter sich lässt und Selbstkontrolle erlernt. Letzteres sollte ich mir wohl nochmal zu Herzen nehmen. Immerhin will ich ja nicht, dass es mir noch irgendwann so ergeht wie Sam und jemand meinetwegen so aussieht, wie Emily."

Wieder lachte Paul trocken auf.
Selbst wenn unsere Leben in letzter Zeit keine Berührungspunkte gehabt hatten, war er doch immer noch derselbe.
Egal, wie emotional das, was er mir nun zu erzählen hatte auch wäre, würde er es nicht auf die Reihe bekommen, diese Emotionen auch zu zeigen.
Mit neutraler Stimme und hier und da einer sarkastische Bemerkung, versuchte er mir plausibel zu erklären, was in den letzten Monaten im Reservat passiert war.

Es war das erste längere, ernstzunehmende Gespräch, das ich seit langer Zeit mit Paul führte.
Einen kurioseren Inhalt hätte ich mir wohl in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, doch trotzdem hin ich förmlich an seinen Lippen.
Nach und nach wurde mir klar, wie blind ich gewesen war.
Ich wusste so wenig von der Welt, in der ich lebte – und auch von den Menschen, die um mich herum lebten und die ich so verurteilt hatte.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now