Kapitel 10 - Prägung

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Prägung. Sich prägen. Oder viel mehr geprägt werden.
Nach Selbstbestimmung klang das, was Sam eben erzählt hatte, immerhin kaum.
Allerdings beschrieb er erschreckend genau das, was mich seit gestern verfolgte.

Genau in diesem Moment bereitete es mir regelrecht körperliche Schmerzen, hier zu sitzen und nicht dort drüben am Strand, an Julies Seite zu sein, sie zu berühren und ihr nicht die Welt zu Füßen legen zu können.
Wieso hatte ich damals nur nicht jede Sekunde geschätzt, die ich ihr nahe sein durfte? Und wie lange konnte ich es ertragen, ihr fern zu bleiben?

Aus der Distanz beobachtete ich sie mit meinen geschärften Sinnen. Ihr melodisches Lachen würde ich aus tausenden Stimmen wiedererkennen. Sie wirkte fröhlich, umgeben von ihren Freunden und strich sich immer wieder die dunklen Haare, die ihr der Wind ständig ins Gesicht blies, hinters Ohr.
Wie wunderschön sie war, wenn sie lächelte.

„Willst du vielleicht etwas loswerden, Paul?"
Auffordernd sah Sam mich an, als ich erschrocken zusammenzuckte und meinen Blick wieder auf den Alpha richtete. Es war unmöglich, dass er mein Starren auf Julie nicht bemerkt hatte.
„Wer ist es? Lou oder Julie?"

Sofort war es mucksmäuschenstill um mich herum und alle neugierigen Blicke lasteten auf mir.
Privatsphäre war innerhalb des Rudels kaum ein Thema, das war mir vom ersten Tag an klar gewesen, doch diese Neuigkeiten schienen für alle von immensen Interesse zu sein.

Ich selbst wusste Sams Frage noch kaum einzuordnen, doch tief in mir – vermutlich der Wolf in mir – kannte die Antwort längst. Sam hatte recht.
Du wirst es spüren, wenn es so weit ist.
Und ich hatte es gespürt - gestern, als Julie mir in die Augen gesehen hatte. 

Ohne also länger darüber nachzudenken, murmelte ich gedankenverloren vor mich hin.
„Julie. Es ist Julie."
Während ich noch versuchte, mich zu ordnen und für mich festzustellen, wie ich es nun finden sollte, dass diese fremden, undefinierbaren Emotionen in mir endlich einen Namen hatten, brachen um mich herum die verschiedensten Reaktionen aus.

Sam hatte vorerst bloß ein tiefes Seufzen für mich übrig und ließ sich nun auf die Knie in den Sand fallen. Embry hingegen gab beinahe eine Art spitzer Schrei von sich.
„Nicht dein Ernst!", platzte es unter schallendem Gelächter aus ihm heraus. „Julie Hanson! Das ist ja herrlich!"
„Brüll' es doch vielleicht noch lauter, dann hört sie's direkt", brummte Quil Embry weitaus weniger amüsiert zu, ehe er dann mich ernst ansah, ohne eine Miene zu verziehen.

„Dir ist schon klar, was du Julie in den letzten vier Jahren angetan hast?", rief er mir vorwurfsvoll in Erinnerung. „Wenn sie auch nur mit einem kleinen bisschen Stolz aus London zurückgekommen ist, dann kannst du froh sein, wenn sie überhaupt noch ein Wort mit dir spricht."

Was das Thema Julie betraf, hatte sich Quil bisher, auch vor unserer beider Verwandlung, immer vornehm zurückgehalten. Er hatte beobachtet, mich manchmal verurteilend angesehen, doch er hatte niemals das Wort gegen mich erhoben – bis heute.
Und das Schlimmste daran war, dass ich es ihm noch nicht einmal übelnehmen konnte.
Auch wenn ich immer noch nicht einsehen konnte und wollte, dass ich etwas Falsches getan hatte, war mir bewusst, dass ich jahrelang der Grund dafür war, dass Julie nicht frei und nicht glücklich sein konnte.
Ich hatte sie davon abgehalten und noch dazu war es mir vollkommen gleichgültig gewesen – ganz im Gegensatz zu jetzt.

Ich war noch nicht einmal im Stande, Quil etwas entgegenzusetzen, doch dafür trat Sam für mich ein. „Das tut nichts zur Sache, Paul ist nicht mehr derselbe. Schon gar nicht derselbe wie vor vier Jahren", stellte er klar und sah Quil eindringlich an.
Dieser schnaubte bloß verständnislos. „Das wird Julie bestimmt nicht so sehen."

„Halt dein Maul, verdammt", keifte ich ihn wutschnaubend an. Meine Stimmung hatte von einer auf die andere Sekunde umgeschlagen und ich spürte dieses wilde, unkontrollierbare Pulsieren an meinem Hals.
Ich war nicht wütend auf Quil, ich wollte einfach, dass er still war – weil er die Wahrheit sagte.
Ich war wütend auf mich selbst, weil ich all die Jahre so verdammt blind gewesen war.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now