Kapitel 03 - Erinnerungen

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„Äh", murmelte ich unsicher, bevor ich entschuldigend meine Mundwinkel nach oben zog. Quil war ein lieber Kerl, doch wenn ich Paul vor der Nase hatte, dann vergaß ich einfach alles und jeden um mich herum. „Tut mir leid."

Wieder schüttelte Quil lachend seinen Lockenkopf.
„Schon gut", winkte er ab. „Soll ich dich lieber in Ruhe lassen?"

Beinahe wäre mein Blick wieder abgeschweift, doch dieses Mal hatte ich mich gezwungen, weiterhin Quil anzusehen. Ich wollte keineswegs unhöflich sein, immerhin war er immer so lieb zu mir und ich hatte ihn gern.

„Tut mir echt leid, ich bin einfach müde. Ich werde auch gleich heimgehen, also –"
„Verstehe", nickte Quil sofort, immer noch stets lächelnd. „Soll ich dich heimbringen?"
„Danke, lieb gemeint, aber das schaff ich schon", schüttelte ich den Kopf und schenkte Quil ein ehrliches Lächeln.

Ich hatte noch nicht einmal gelogen, immerhin war ich wirklich erschöpft und es war auch schon nach Mitternacht. Dad war nicht wohl, wenn ich um diese Uhrzeit noch unterwegs war, selbst wenn es nur innerhalb des Reservats war.
„Na dann, komm gut heim", verabschiedete sich Quil und hievte sich aus dem Sand wieder zurück auf die Beine.
„Bye."

Gerade wollte ich es ihm gleich tun und tatsächlich nach Hause aufbrechen, als plötzlich eine Stimme neben mir ertönte, die mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte.
„Was hör ich da, du willst schon gehen?"
Erstarrt richtete ich meinen Blick zur Seite und sah direkt in die dunklen Augen, die mich schon seit so vielen Jahren verrückt machten.

Ich glaube es waren die ersten Worte, die Paul jemals direkt an mich gerichtet hatte. Sicher, wir hatten teilweise dieselben Freunde und Bekannte und waren oft in derselben Gruppe unterwegs, doch er hatte mir niemals besondere Beachtung geschenkt oder sich die Zeit genommen, mit mir zu sprechen – bis heute.

„Äh", war vorerst alles, was ich im Stande war von mir zu geben und starrte ihn ungläubig an. Ich hatte ihn nur eine Minute aus den Augen gelassen und plötzlich saß er hier neben mir – und mir fehlten im wahrsten Sinne die Worte.
Fest stand bloß, dass in diesem Moment gar nicht mehr ans nach Hause gehen zu denken war.

„Naja, wenn ich nichts trinken würde, würd ich wohl auch schon heim gehen", sagte Paul und warf einen skeptischen Blick auf meinen immer noch vollen Plastikbecher.

Er redete mit mir. Er hatte sich zu mir gesetzt, immerhin war ansonsten weit und breit niemand bei mir. Nun war es an mir, diese Situation nicht gegen die Wand zu fahren.

Ohne zu überlegen schüttelte ich also den Kopf und warf ebenso einen Blick auf das Bier in meiner Hand, ehe ich einen ordentlichen Schluck davon nahm. Himmel, was das ekelhaft, aber zumindest war nun fast die Hälfte des Bechers leer.

„Okay, das nenn ich mal nen Zug", lachte Paul und sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. „Dann mal cheers."
Anerkennend stieß er mit seinem Becher gegen meinen und ich spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug, als er seine Beine an sich zog und mit dem Knie beiläufig gegen meine stieß.
Dieser Tag war schon jetzt der beste meines Lebens.

Glücklicherweise war Paul redselig und hatte mir von nahezu jeder Person an diesem Strand irgendeine schlüpfrige Anekdote zu berichten, worüber er selbst immer wieder herzhaft lachen konnte. Und ich lachte, weil ich mein Glück kaum fassen konnte und sein Lachen so herrlich ansteckend war.

Paul war ein wahnsinnig offener Mensch. Er erzählte, trank, schlug immer wieder einem der vorbeilaufenden Kerle gegen das Bein, um sie anzuhalten und ein paar Worte zu wechseln und er lief ständig zu dem Kasten Bier, der im Meer kaltgestellt war, um mich weiterhin damit zu versorgen.
Vielleicht lag es an der Aufregung, vielleicht lag es auch daran, dass das Bier irgendwann seinen ekelhaften Geschmack verlor – jedenfalls leerte ich einen Becher nach dem anderen.

Alkohol sei Dank wurde ich auch um Einiges gesprächiger und konnte beiseiteschieben, dass Paul Lahote höchstpersönlich hier bei mir war. Im nüchternen Zustand hätte ich wohl niemals verarbeiten können, dass er nach einer Weile näher gerückt war und seinen Arm um mich gelegt hatte.

Zwar waren meine Sinne etwas benebelt und meine Reaktionen verzögert, doch trotzdem genoss ich jede Sekunde und hatte auch bereits Lou bemerkt, die immer wieder mit großen Augen vorbeigelaufen kam und mir wohl mittels Augenakrobatik anzeigen wollte, wie überrascht sie von der vorherrschenden Situation war. Da ging es ihr wie mir und ich war ihr dankbar, dass sie diese Situation auch nicht unterbrach.

Neben Lou streifte auch das brünette Mädchen, mit dem Paul zuvor noch so vertraut gewirkt hatte, mehrmals an uns vorbei und warf uns verstohlen einen Blick zu. Doch selbst sie hätte mir in diesem Moment nicht gleichgültiger sein können.

„Du bist ziemlich süß, weißt du das?", sagte Paul plötzlich wie aus dem Nichts und sah mich unverhohlen an.
Egal welchen Pegel ich im Moment hatte, ich war trotzdem nicht fähig, diesem Blick lange stand zu halten. Verlegen starrte ich also stattdessen auf den feuchten Sand vor mir und strich mir eine dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr.

Anstatt meiner, war dafür aber Jacobs etwas lallende Stimme zu hören. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie dicht er hinter uns stand.
„Boah, Lahote, da wird einem ja schlecht! Hör doch mal auf, dem armen Mädchen Honig ums Maul zu schmieren!", warf er ungefragt ein, bevor er sich fluchtartig wieder von uns und dem Feuer entfernte.

Seufzend rollte Paul mit den Augen, bevor sein verwegener Blick wieder mich fand.
Ich konnte nichts sagen, ich wusste auch gar nicht was ich sagen wollte, denn ehe ich mich versah, spürte ich Pauls Hände in meinem Nacken.
Widerstandslos ließ ich ihn mich näher sich ziehen, bevor er mich entschlossen und leidenschaftlich küsste.

Möglicherweise lag es auch am Alkohol, doch ich hätte schwören können, dass die Welt in diesem Moment stillgestanden hatte. Paul Lahote hatte mich geküsst. Er wollte mich.
Ich war irr vor Glück.

Seine Küsse wurden von Sekunde zu Sekunde stürmischer, fordernder, bis er sich schließlich atemlos wieder von mir löste.
„Okay, jetzt würd ich auch gerne heim gehen", raunte er mir zu und grinste mich schamlos an.
Er sah einfach so unverschämt gut aus.
„Kommst du mit zu mir?"

Ich erkannte mich selbst nicht wieder, doch sofort stand mir ebenfalls ein breites Lächeln im Gesicht und nickte zustimmend.
Jetzt war ich so weit gekommen und endlich konnte Paul sich für mich begeistern, da konnte ich nun keinen Rückzieher machen.

Ehe ich mich versah, stand Paul bereits wieder auf den Beinen und reichte mir die Hand, um mir ebenfalls wieder hoch zu helfen. Gerade wollten wir möglichst unbemerkt zusammen verschwinden, doch dabei hatten wir die Rechnung ohne Embry gemacht.

„Ach du scheiße, Lahote!", rief er uns lautstark hinterher. „Machst du jetzt schon vor gar nichts mehr halt?"
Paul schien es aber gar nicht für nötig zu halten, auf ihn zu reagieren, sondern zog mich bloß weiterhin mit sich durch das Waldstück, bis hin zu sich nach Hause.
Ich hatte mir immer vorgestellt, mein erstes Mal mit Paul Lahote zu erleben und genau dieser Wunsch war in dieser Nacht in Erfüllung gegangen.
Ich war mir sicher, dass ich das glücklichste Mädchen dieser Erde sein musste.


Vier Jahre lag diese Party am Strand nun zurück.
Ich war jung, naiv und unschuldig, auch wenn ich Letzteres in dieser Nacht Paul geschenkt hatte. Es war eine von vielen Nächten, die ich mit ihm verbracht hatte, doch dieses erste Mal wird mir immer in Erinnerung bleiben.

Auch wenn ich heute nur noch ungern an Paul selbst dachte, zauberte mir diese Erinnerung doch immer wieder ein Lächeln auf die Lippen.
Es waren Erinnerungen wie diese, die mir oftmals gefährlich geworden waren. Die guten, schönen Momente hatten mir oft wieder Hoffnung darauf geschenkt, dass Paul vielleicht doch der Richtige für mich sein konnte.
Ich war in dieser Nacht so erfüllt von Glück gewesen, als könnte mich niemals wieder etwas auf den Boden zurückbringen. Ich wünschte, das wäre auch tatsächlich der Fall gewesen.

Stattdessen saß ich nun alleine hier an dem verborgenen Strandabschnitt und auch der Rest meines ehemaligen Freundeskreises schien sich in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln.
Verrückt, wie sehr sich die Dinge mit der Zeit ändern konnten.

Gerade genoss ich weiterhin die Ruhe und den Blick auf das offene Meer, als in dem kleinen Waldstück hinter mir plötzlich Rascheln und Stimmen ertönten.
Erschrocken zuckte ich zusammen wandte meinen Kopf reflexartig in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren – und schon war ich doch nicht mehr alleine hier.

Lahote || Twilight / WerwolfWhere stories live. Discover now