4 - Santino und Lillian Part I

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LILLIAN

Das Meer ist rau. Hohe Wellen schlagen gegen die Hafenmauern und ein Sturm hat sich am Horizont zusammengebraut. Die Palmen biegen sich im Wind, während Donner die energiegeladene Luft durchschlägt und mich zusammenzucken lässt. Die Arme um mich geschlungen stehe ich vor den großen Fenstern im Schlafzimmer und beobachte die Szenerie. Unten in der Stadt herrscht nicht mehr viel Trubel und auch der Strand ist bereits menschenleer. Kein Wunder, es ist immerhin Dezember. Obwohl es hier nie sonderlich kalt wird, ist es heute recht frisch und ungemütlich draußen. Kein Wetter, um sich in Palermo aufzuhalten. Ich bin ohnehin nicht oft allein unterwegs. Meistens wenn Santino und ich ausgehen, sonst bevorzuge ich die Villa über der Stadt. Ich habe hier niemanden, zu dem ich sonst gehen könnte. Seit unserer Flucht aus den Staaten ist bereits mehr als ein Jahr vergangen und ich fühle mich inzwischen recht wohl, nicht wie zu beginn. Santino baut die geschäftlichen Beziehungen zwischen seiner Familie in New York und seiner Verwandtschaft hier weiter aus und ist so meistens den Großteil des Tages unterwegs. Aber in der Villa ist es nicht einsam. Seine Tante bewirtet das Haus und wir finden immer etwas, um uns zu beschäftigen.
Vor ein paar Tagen jedoch ist sie nachhause aufgebrochen. Corleone ist zwar nicht weit, aber sie wird bis nach den Feiertagen bei ihnen bleiben. Bis dahin sind wir beide allein, das kann auch schön sein.

Fröstelnd wende ich mich von den Fenstern ab und laufe zum Schrank. Ich greife mir einen von Santinos Pullovern, da sie viel dicker sind als meine. Der weiche Stoff schmiegt sich an meine Haut und schickt ein wohliges Kribbeln durch meinen Körper. Zufrieden mache ich mich auf den Weg nach unten. So langsam wird es dunkel und mein Mann sollte bald zurückkehren. Ich finde es immer noch äußerst komisch, ihn so zu nennen. Es ist ungewohnt, obwohl wir bereits über ein Jahr verheiratet sind.
Der dicke Ring an meinem Finger, der mir entgegenglänzt im Schein des geöffneten Kühlschranks, unterstreicht dies nur. Ich bin eine Benelli, dabei fühle ich mich immer noch wie eine Jones.
Ich nehme mir etwas Fleisch aus dem Kühlschrank, dass ich beginne zuzubereiten. Normalerweise kocht Santino, weil er es so gut kann. Heute werde ich allerdings für das Abendessen zuständig sein. Meine Mom hat mir ein Rezept gegeben von Grandma Jones. Obwohl ich sie nie kennengelernt habe, soll sie eine nette Frau gewesen sein und ihre Lasagne unwiderstehlich. Zugegeben ist der Gedanke, Santino etwas Italienisches zu kochen, beängstigenderer als gedacht. Immerhin ist er Italiener und kann es tausend Mal besser als ich. Trotzdem wage ich mich an das Gericht. Das Kochen lenkt mich ab und obwohl mir vom Geruch des rohen Fleischs fast das Mittagessen wieder hochkommt, zwinge ich mich dazu weiter zu kochen. Ihm zuliebe.
Zudem bringt es mich auf andere Gedanken. Der Wind peitscht große Regentropfen von außen gegen die bodentiefen Fenster und lässt mich an eine Zeit zurückdenken, in der ich mich in New York befand, bei meinen Eltern. Es war wunderschön. Obwohl sie die letzten Feiertage bei uns verbrachten, ist es doch etwas anderes im Schnee zu stapfen als am Strand zu liegen. Nun ja, im Dezember ist es selbst hier nicht so warm, dass man sich freiwillig in den Sand legen würde, dennoch um einiges wärmer als an der Ostküste.

»Das riecht köstlich, Mia Bella«, reißt Santinos Stimme mich aus den Gedanken. Ich lasse den Löffel fallen, schlinge meine Arme um den großen muskulösen Italiener und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals. Ein raues Lachen löst sich aus seiner Brust. »Hat mich jemand vermisst?«
»Natürlich«, gebe ich zu und ziehe ihn enger. Inzwischen passt kein Blatt mehr zwischen uns. Seine großen Hände gleiten über meinen unteren Rücken, über meinen Po zu den Seiten, auf denen sie sich platzieren. »Entschuldige das es später geworden ist. Ich war noch einkaufen«, erklärt er und lässt mich hellhörig werden. Neugierig gebe ich den Kopf, in der Sekunde drückt er seine Lippen sanft auf meine und küsst mich. Sehnsüchtig schließe ich dabei meine Augen und seufze. Ich liebe seine weichen warmen Lippen, die mit ihrer sanften Berührung die Kälte aus meinen Knochen vertreiben. In all der Zeit hat sich nichts zwischen uns verändert.
»Einkaufen? Du?«
»Ja.« Santino lässt von mir ab und späht über meine Schulter auf den Herd. »Lasagne?«
Ich nicke zustimmend und wende mich erneut dem Topf zu. Die rote Sauce ist endlich fertig und wartet nur darauf, über die Platten gegossen zu werden. »Himmlisch. Während das Essen im Ofen ist, könnte ich dir zeigen, was ich mitgebracht habe«, schlägt er vor. Zustimmend richte ich das Abendessen an und schiebe die tiefe Auflaufform in den Ofen. Keine Sekunde später zieht Santino mich die Treppen ins Schlafzimmer hinauf. Unterwegs stelle ich einen Timer, damit das Essen nicht verbrennt.

»Was willst du mir zeigen?«, frage ich neugierig und lasse seine Hand los. Ich schließe die Tür hinter uns und folge ihm tiefer ins Schlafzimmer hinein. Eine Antwort gibt mein Mann mir nicht. Stattdessen bin ich es, die einen Ton ausstößt, als sie die zwei dicken Winterjacken am Türrahmen des begehbaren Kleiderschranks hängen sieht. »Winterurlaub? Oder willst du die in Palermo anziehen?«, hinterfrage ich seine Kaufentscheidung. Wieso zum Teufel schleppt er Winterkleidung an? Hier wird es nie so kalt, dass man ernsthafte Skikleidung tragen müsste. Was hat er also vor?
Selbstsicher sinkt Santino auf den Rand des großen Boxspringbettes und zieht mich rittlings auf seine Beine. Meine Schenkel reiben gegen den derben Stoff seiner Anzughose als ich näherrutsche. »Ich dachte wir verbringen Weihnachten vielleicht an einem anderen Ort«, offenbart er mir. Mit einem geschickten Handgriff wird er sein Jackett los und legt seine Hände anschließend zurück an meine Hüften. »Ach ja? An welchen denkst du?«
»Little Italy.«
Seine zwei simplen Worte lösen einen kalten Schauer in mir aus. Er will zurück nach New York City? In die Stadt die uns so viele Nerven kostete? Die Stadt, die uns gejagt hat?
»Bist du wahnsinnig?« Meine Stimme klingt verbissener als beabsichtigt, was Santino kurz aus der Reserve lockt. Doch bevor ich den Blick in seinen Augen deuten kann, ist er wieder verschwunden.
»Ja es ist waghalsig«, gibt er ernst zu. Meine Miene droht zu entgleiten. »Waghalsig?«, zische ich fassungslos an. »Das ist verrückt!«
»Hör mir zu Mia Bella«, beruhigt er mich und legt seine rauen Hände an meine Wangen. Mein Gesicht versinkt in ihnen. »Niemand wird uns verraten. Wir werden in Little Italy sicher sein. Solang wir unter falschem Namen einreisen, ist dies kein Problem. Und selbst wenn das NYPD uns auf die Schliche kommt, spielt es keine Rolle. Meine Familie kann jedem von diesen lausigen Sesselfurzern Honig ums Maul schmieren. Die werden vor lauter Schmiergeldern glatt über die Tatsache hinwegsehen, dass wir beide zurück sind.«

Seine Worte bringen mein Herz angestrengt zum Klopfen. Ich kann nicht fassen, dass er dies wirklich für eine gute Idee hält. Das... das ist Wahnsinn!
Santino muss Fieber haben, oder halluzinieren. Hat er vergessen, wie fluchtartig wir damals die Stadt verlassen mussten? »Die sperren dich ein, wenn sie dich finden«, hauche ich und schaue ihm in die Augen. Unsere Blicke kreuzen sich und seine dunklen Iriden zeigen Verständnis. Etwas, was nicht sonderlich oft in ihnen zu sehen ist. »Keine Angst Lillian, das wird nicht passieren. Bitte, mia bella. Ich verspreche dir das wir nach Neujahr wieder abreisen und zurückkehren werden. Vermisst du deine Familie nicht?«
Seine Worte sind unfair. Er weiß, wie sehr ich meine Eltern vermisse. Auch weiß er, welche Karten er ausspielen muss, um mich zu überzeugen. Ergeben lehne ich meine Stirn gegen die seine. »Das ist nicht fair«, wispere ich.
»Es ist etwas Gras über die Sache gewachsen. Sie werden nicht mal mitbekommen das wir da wahren. Komm schon, liebes.«
Ich schließe die Augen und sehe die Stadt vor mir. Den erleuchteten Central Park, den Weihnachtsbaum am Rockefeller Center und die vielen bunten Lichter die die Straßen schmücken. Egal wie viel Freude ich mit den Straßen verbinde, es liegt gleichviel Schmerz in ihnen. Unweigerlich muss ich an Maya und unseren Ausflug zur Schlittschuhbahn denken. Wie sie mich in einer Gasse K.O. schlug und mich, ohne zu zögern an Julian Vallian auslieferte. Ich dachte, sie wäre meine Freundin gewesen. Stattdessen hat sie mich hintergangen. Ich war nur ein Mittel zum Zweck für sie. Aber sie, für mich war sie eine echte Freundin. Meine einzige.

Santinos Daumen gleitet sanft unter meinem Auge her. »Verschwende keine Tränen an die schlechten Momente, bella. Niemand von ihnen hat deine Tränen verdient.« Seine Stimme klingt so warm und einlullend, dass ich meine Arme um seinen Hals schlinge und mich völlig dem Gefühl hingebe, dass seine feste Umarmung in mir auslöst. So sehr ich das alles hinter mir lassen will, ein kleiner Teil in mir versucht daran festzuhalten. Ich habe so lange gebraucht, um die Albträume zu überwinden und das Geschehene zu verarbeiten. Sein einfacher Vorschlag zurückzukehren wühlt dies alles wieder in mir auf. Dabei ist es eine schöne Idee. Ja, vielleicht kann ich so damit abschließen und mich endlich auf mein Leben mit ihm konzentrieren. Hier in Palermo.

»Okay«, gebe ich so leise nach, das ich kurz daran zweifle, es überhaupt ausgesprochen zu haben. Doch das Lächeln auf dem Gesicht meines Mannes lässt keinen Zweifel. »Danke für dein Vertrauen. Du wirst es nicht bereuen.« Santinos versichernde Worte dringen tief in mich vor und hallen mehrmals wider, bevor sie abklingen. Ich weiß, dass ich es nicht bereuen werde. Wie könnte ich je? Ich vertraue ihm blind. Auch wenn so viele schmerzliche Erinnerungen an meine alte Heimat geknüpft sind, überwiegen die schönen. Ich freue mich auf die Stadt und die Lichter, das gute Essen in der Pizzeria und den Schnee. Gott, sogar auf Santinos grummelnden Vater. Ja, sogar auf den.
Überglücklich küsse ich den Italiener und das Feuer zwischen uns entwickelt sich zu einer wilden Knutscherei, die alle Gedanken in meinem Kopf zum Schweigen bringt. Ein für alle Mal. Santino fällt rückwärts in die Laken und ich stütze mich über ihn, küsse ihn erneut verlangend und spüre durch seine Hose, was meine Präsenz in ihm auslöst. Gott, ich liebe diesen Mann.

24 days til christmas | 18+Where stories live. Discover now