15. Kapitel - Erin

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Kaum war Henry weg, machte sich das schlechte Gewissen in mir breit und ich bereute meine Worte sofort.

Wie konnte ich Henry auch einen Vorwurf machen? Er hat getan, was er für richtig gehalten hat und es war nicht fair, dass ich ihn deshalb so anfuhr.

„Ich denke, du suchst das hier, junge Hüterin..."

Ich drehte mich erschrocken um und fand mich einem Elf gegenüber, der mich freundlich anlächelte und mir ein dünnes, sehr altes und sehr zerfleddertes Buch entgegenhielt.

Anders als die anderen Elfen, trug dieser Elf die Haare ziemlich kurz, wodurch seine Ohre noch spitzer wirkten. Von seiner Stirn bis hinunter zu seinem rechten Mundwinkel, zog sich eine lange Narbe.

Er war schlank und hatte schmale Schultern, aber etwas an ihm wirkte nicht ganz richtig. Erst auf dem zweiten Blick kam ich drauf, was schon sehr verwunderlich war.

Der Elf hatte anstelle von Füßen, ein paar Hufe und auch die Beine wirkten seltsam verformt.

„Der alte Gambitz", rutschte es mir überrascht heraus und er lächelte.

„Ich bevorzuge eigentlich Orion, auch wenn ich verstehe, weshalb mich alle so nennen. Es ist eine wahre Seltenheit, dass ich eine einigermaßen, menschliche Gestalt habe", sagte er ruhig und reichte mir das Buch, das er noch immer in der Hand hielt.

„Ich weiß weshalb du hier bist, aber du wirst deine Antwort in keinem Buch hier finden. Das hier, ist das Buch welches du brauchst", sagte er und ich sah mir den schmuddeligen, zerfledderten Einband an.

Nur noch ein Wort war lesbar und das war ‚Lavandia'.

„Woher weißt du, was ich suche?", fragte ich zögernd und langsam setzte sich Orion mir gegenüber.

„Ich weiß alles. Du suchst nach dem Spiegel der Wahrheit und insgeheim möchtest du auch etwas über den Spiegel der Prophezeiung erfahren. Und diese Tatsache liegt dem Wunsch Zugrunde, zu erfahren, was mit deinen Eltern wirklich geschehen ist", sagte er und ich schluckte.

„Und du wirst mir jetzt erklären, dass der Spiegel der Wahrheit mir nicht helfen wird und es Zwecklos ist, danach zu suchen", sagte ich leise und wandte den Blick ab.

„Keines Wegs. Der Spiegel der Wahrheit wird dir die Antwort auf deine Frage liefern. Allerdings solltest du wissen, dass der Spiegel sehr alt ist. Ein fast vergessenes, magisches Relikt. Nur noch ein Schatten seiner selbst, welches kaum noch die nötige Energie aufbringen kann, weiter zu existieren", sagte Orion und sah mich eindringlich an.

„Was bedeutet das? Funktioniert er nicht mehr richtig und zeigt nur noch die halbe Wahrheit?", fragte ich leise.

„Es bedeutet, dass er nur noch so viel Magie in sich trägt, um eine Frage zu beantworten. Das solltest du wissen, wenn du ihn findest", sagte er und ich runzelte nachdenklich die Stirn.

„Du meinst, wenn ich ihn frage, was in der Nacht, in der meine Eltern gestorben sind, wirklich geschehen ist, dann wird er mir eine Antwort liefern und danach... ist er nicht mehr zu gebrauchen?" Der alte Gambitz nickte.

„Und in diesem Buch hier... steht wo ich ihn finde?"

Wieder nickte der alte Gambitz und ich sah das Buch vor mir an. Ich hielt im Prinzip den Schlüssel zur Wahrheit in meinen Händen. Ich konnte wirklich herausfinden, was in der Todesnacht meiner Eltern geschehen war. Und noch etwas konnte ich erfahren.

„Ich könnte auch herausfinden, was mit Lenori geschehen ist und wer für ihren Tod verantwortlich ist..."

Ich hielt nicht nur den Schlüssel zur Wahrheit in meinen Händen, sondern auch das Schicksal von Lavandia. Wenn wir herausfanden, wer für Lenoris Tod verantwortlich ist, würden die Nymphen keinen Krieg mit den Elfen anfangen.

Das Gleichgewicht in Lavandia wäre wiederhergestellt und Lenoris Mörder, könnte zur Rechenschaft gezogen werden. Aber ich würde nie erfahren, was mit meinen Eltern passiert ist.

„Was soll ich tun?", fragte ich leise und schluckte. Ich wollte wissen, was wirklich passiert ist. Wieso es wirklich zu dem Brand kam. Aber konnte ich meine eigenen Interessen so in den Vordergrund stellen?

„Das ist ganz allein deine Entscheidung, Erin. Und wie auch immer du dich entscheidest, es wird richtig sein", sagte Orion und ich sah ihn an.

„Du kennst meine Prophezeiung. Hat die Prophezeiung etwas mit dieser Sache zu tun? Ich meine, wenn ich den Spiegel frage, was mit meinen Eltern geschehen ist, könnte Liron den Elfen den Krieg erklären, weil wir Lenoris Mörder nicht finden. Wenn ich aber frage, was mit Lenori passiert ist, dann werde ich nie wissen, wieso meine Eltern wirklich gestorben sind. Ich entscheide über das Schicksal von Lavandia..."

Orion sagte nichts, sondern sah mich einfach nur an. In seinem Blick lag Verständnis und irgendwie überkam mich plötzlich so ein ganz seltsames Gefühl.

„Ich brauche meine Prophezeiung", sagte ich und der alte Gambitz lächelte. Er zog die Schriftrolle unter seinem Umhang hervor und reichte sie mir.

Langsam rollte ich die Schriftrolle auseinander und tatsächlich manifestierten sich ganz langsam die Worte auf dem Papier.

„... zwei Elemente gegensätzlicher Natur, nur gemeinsam sie bringen dem Land seine Ruhe.

Doch wird der Frieden niemals weilen, solange es zwei Familien bleiben..."

Ich sah Orion an und hoffte irgendwie, dass er mir einen Hinweis darauf gab, was die Worte bedeuten könnten. Jedoch stand er langsam auf und wandte sich zum Gehen.

„Warte... was hat das zu bedeuten? Ich... ich verstehe es nicht. Ich dachte, ich würde erfahren, was ich wegen der Spiegel-Sache tun soll", sagte ich und Orion drehte sich lächelnd zu mir um.

„Du weißt was die Worte bedeuten, Erin. Du musst jetzt nur noch herausfinden, was du tun musst und die für dich richtige Entscheidung treffen. Ich glaube fest an dich", sagte er und verließ die Bibliothek.

Ich sah auf die Schriftrolle vor mir hinunter und las mir die Worte noch einmal durch. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass meine Prophezeiung nicht vollständig war.

Und auch wenn der alte Gambitz meinte, dass ich wissen würde, was die Worte bedeuteten, machte es für mich keinen Sinn.

Seufzend rollte ich die Schriftrolle wieder zusammenund nahm sie und das Buch, das Orion mir gegeben hatte, ehe ich die Bibliothek ebenfalls verließ.

Avaglade - Reise durch Lavandia (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt