Kapitel 19

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Ehe Enola es sich versah saßen die beiden Geschwister schon in einer Kutsche. Ohne Frühstück. Und sie wusste auch nicht, wo es hinging. 

Leicht empört wandte sie sich an Felix, um ihn mit Fragen zu durchlöchern: "Sag mal wo geht es denn bitte sehr hin? Wir haben uns auch noch nicht den Zettel angeguckt."

Ihr Bruder verdrehte die Augen. Wortlos reichte er ihr den Zettel von vergangener Nacht. Sie nahm ihn entgegen. Fremde Bustaben tanzten auf dem Papier, dunkle Tinte mahlte sie auf den hellen Untergrund. Sie inspizierte das Blatt. Es erinnerte sie an ihren Matheunterricht von ihrer Mutter. 

"Ist Griechisch, falls du es noch nicht bemerkt hast. Das Wort ganz unten heißt Nero." Felix deutete auf das letzte Wort und lächelte verschmitzt, "Wir gehen in meine Lieblingsbar, den Ignotus Vir. Besoffen ist mein griechisch besser."

"Meintest du nicht, dass wir zu dem Ort gehen, wo Tweksburry entführt wurde?"

"Is zweitrangig. Zuerst der Zettel."

"Bekommt man da auch was zu essen?"

"Wir halten unterwegs bei einer Bäckerei an."

"Gut."

Nachdem Enolas Bauch mit köstlichem Kuchen befühlt wurde machten sie sich auf eine sonst Stumme fahr zur Bar auf. Je weiter sie kamen desto lädierter waren die Häuser. Farbe schälte sich von den Wänden, das Holz der Türrahmen faulte und Fenster ohne Scheiben wurden verbarrikadiert. Trostlos, um es kurz zu sagen.

Das Gebäude der Bar sah nicht besser aus. Es wirkte in sich zusammengesackt, als ob die Last der Stadt an ihm zehrte. Die Tür, die sie für den Keller vermutete, entpuppte sich als Eingang zu dem Loch, in welchem Nachts Männer strömten um sich im Alkohol zu verlieren.

Dennoch war sie positiv überrascht von dem Inneren des Schankraums. Alles war Edel mit Holzverkleidet und das Design erinnerte sie an das antike Rom. Ein angenehmes Licht kam durch die schmalen Fenster, die am Tag die einzige Lichtquelle in dem ausgebauten Keller waren. 

Der Raum war bis auf ein paar Männer völlig leer. Sie saßen zusammengekauert in der hintersten Ecke und nur einer stand auf, als die beiden eintraten. Von den anderen wurden sie mit Blicken durchlöchert.

Der Fremde war vollkommen tätowiert. Auch auf seinem kahl geschorenen Kopf waren Bilder aus Tinte verewigt. Er war asiatischer Abstammung, seine Augen huschten zwischen den Geschwistern umher. Auf Felix bleiben sie stehen.

Seine Stimme war die eines Rauchers. Trübe und unangenehm gingen seine Worte ihm schwer über die Lippen: "Soll ich Venus hohlen?"

Ein kurzes Nicken von Felix genügte schon, um den Mann in den hinteren Teil des Ladens eilen zu lassen. Ihr Bruder drehte sich zu ihr um und raunte ihr zu: "Kettenraucher." Dennoch verschwand sein Grinsen die ganze Zeit nicht von seinem Gesicht. Er gestikulierte in die Richtung der Theke und sagte, dass sie sich da hinsetzen kann. Er selbst ging dahinter und nahm eine Wodkaflasche, bevor er sich zu ihr setzte. Öffnen tat er die Flasche nicht.

Die Tür zum hinteren Teil des Ladens öffnete sich und bevor Enola auch nur einen Blick riskieren konnte sprang Felix auf und begrüßte den Neuankömmling: "Venus, meine Liebe, lange nicht mehr gesehen."

Venus geriet in ihr Blickfeld. Er hatte mittellange Haare die zerzaust auf seinem Kopf lagen. Er trug... ein Kleid. Ein einfaches Sommerkleid. Generell war er gekleidet wie eine Frau. Dennoch sah man die harten von Kämpfen geprägtem Gesicht sein physisches Geschlecht an. Felix musste ihre Verwirrung spüren denn er warf ihr einen scharfen Blick zu. Zu spät.

"Sind sie nicht ein Mann?" Die Zeit schien anzuhalten. Keiner der Männer bewegte sich. Felix ermordete sie mit seinem Blick.

Venus war überrascht. Die Überraschung wich aber schnell Verwirrung, welche Platz machte für Zorn. Seine Hände ballten sich um den Stoff des Kleides, eine Falte so tief wie der Grand Canyon. Seine Stimme kam gepresst hervor, kalt und zornig: "Wie wagst du es du kleine..."

Felix unterbrach sie: "Venus, du musst mir was übersetzen."

Wutentbrannt fauchte Venus Felix an: "Du Wichser kannst mich mal!"

Dennoch drückte er ihr den Zettel in die Hand: "Sie haut danach sofort wieder ab. Versprochen."

Aggressiv riss Venus ihm den Zettel aus der Hand. "Braucht dein neues Spielzeug etwa Hilfe?! Sie kann ja kaum einer deiner Hunde sein!" Das vorletzte Wort spuckte sie besonders abfällig aus. Dennoch überflog sie den Zettel. Sie streckte ihre Hand aus in Richtung des Asiaten, der sich beeilte, ihr einen Stift zu geben. Sie beeilte sich, die Übersetzung aufzuschreiben. Der Stift flog über das Blatt und hinterließ unsaubere Bustaben, die zu Wörtern zusammenflossen und Sätze bieten, die Enola von ihrem Platz nicht identifizieren konnte. 

Bitter gab Venus Felix die Notiz zurück. Er wiederum gab sie Enola zusammen mit der Flasche.

"Geh schon mal zurück, ich komme am Nachmittag nach. Überlege schonmal wegen der Lösung." Er scheuchte sie in Richtung Tür. Bevor er sie jedoch auf die Straße schubsen konnte hörte sie aus dem Inneren der Bar Venus rufen: "Vergiss nicht Kleine, Memento Mori."

Dann stand sie vor der Kutsche. Die Tür wurde hinter ihr ins Schloss geworfen. Und sie ging nachdenklich in die Kutsche. Eine halbe Stunde später kam sie wieder im Haus an. Sie ging doch die Tür. Auf den Weg in ihr Zimmer stellte sie sich einige Fragen. Aber eine davon beschäftigte sie am meisten: meinte Felix nicht, er wolle das übersetzen? Warum hatte Venus das getan?

Langsam öffnete sie den Zettel.

And suddenly there were four (Enola Holmes Fanfiction)Where stories live. Discover now