23 Wiedersehen

138 44 23
                                    

Die zehn Minuten waren um. Leonie war inzwischen zu unruhig, um neben mir im Bett zu liegen. Sie saß auf einem Stuhl und wippte ungeduldig hin und her. Als sie plötzlich erstarrte, wusste ich, dass der Moment gekommen war. Jemand hatte vermutlich geklopft und es waren ganz bestimmt unsere Eltern.

Leonie war bereits auf ihren Beinen, bevor ich irgendjemanden sehen konnte. Sie ließ ihre Krücken, wo sie waren, und stürmte in Richtung Flur zur Tür. Keine Sekunde später erschien dort meine Mutter. Als sie Leonie erblickte, breitete sie ihre Arme weit aus. Ihre Augen schimmerten feucht, als Leonie sich ihr entgegenwarf und die beiden sich in eine feste Umarmung schlossen. Ich sah, wie ihre Körper bebten. Sie weinten.

Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, Druck baute sich in meiner Brust auf. Emotionen, die schon den ganzen Tag in mir gebrodelt hatten, wollten den Damm durchbrechen, den ich errichtet hatte, um für Leonie da zu sein. Nun brachen sie sich Bahn. Leonie mit Mama zu sehen, war das größte Glück auf Erden. Ein Sturm tobte in mir, die Gefühle der Freude und des Glücks brandeten gegen die Verzweiflung und Trauer aus zehn Jahren der Angst und Qual. Ich war ein heilloses Chaos, am Zittern, am Beben.

Da kam Papa. Gerade hatte er sich der Umarmung anschließen wollen, als er mich sah, wie ich mit meinen gewaltigen Emotionen kämpfte. Sofort rannte er zu mir.

„Hey mein Schatz. Luisa, wir sind so unheimlich stolz auf dich!"

Seine Worte ließen mich nur noch mehr schluchzen. Was ich getan hatte, war so unfassbar dumm gewesen! Ich war beinahe gestorben! Und doch hatte es mir meine Zwillingsschwester zurückgebracht. Ich konnte nicht bereuen, was mir letztendlich das größte Glück geschenkt hatte. Doch es tat deshalb nicht weniger weh.

Papa kam mir näher und nahm mich ganz vorsichtig in den Arm. Er wollte mir nicht wehtun, er wusste selbstverständlich von meiner Schusswunde. Doch das war mir egal. Ich drückte ihn so fest an mich, dass ich seinen Herzschlag spüren konnte, der wie wild gegen seinen Brustkorb donnerte. Bei mir war das nicht anders. Die Emotionen überwältigten mich.

Papa streichelte mir tröstend über den Rücken und ich schaffte es nur langsam, wieder zur Ruhe zu kommen. Tränen verschleierten meine Sicht, als ich zu Mama und Leonie blickte. Sie hatten sich inzwischen aus ihrer Umarmung gelöst und gebärdeten, doch nach ein paar Wörtern lagen sie sich schon wieder in den Armen.

„Geh ruhig", meinte ich zu Papa. Er sollte sich nicht um mich kümmern müssen, wenn er Leonie das erste Mal seit zehn Jahren sah.

Papa zögerte, es war ihm nicht recht, mich auf meinem Bett alleine zu lassen, doch er hielt es selbstverständlich auch nicht mehr aus, von Leonie getrennt zu sein. Ich lächelte ihm noch einmal zusichernd zu, ehe er vorsichtig aufstand und sich zu seiner zweiten Tochter umdrehte. Er schien ein Geräusch zu machen, vielleicht sagte er Leonies Namen, so gut es ging, denn Leonie drehte sich sofort zu ihm um.

Wieder war es beinahe mehr, als ich verkraften konnte, als Leonie nun auch ihm um den Hals fiel. Es waren zu viele Emotionen für einen einzigen Körper, zu viele Emotionen für einen Raum. Ich hatte das Gefühl, das ganze Krankenhaus müsste spüren, was hier gerade vor sich ging. Es war überwältigend, im wahrsten Sinne des Wortes. In meinem Zustand kostete all das eigentlich viel mehr Kraft, als ich hatte.

Aber es war so wunderschön. So wunderwunderschön. Dieser Moment würde für immer in meinem Gedächtnis bleiben als der schönste Augenblick meines Lebens.

„Was machst du nur für Sachen, Luisa?", kam Mama nun auf mich zu. Ich schniefte und versuchte mich zu sammeln.

„Ich bin so froh, dass ihr da seid", gebärdete ich mit einer Hand. Die linke war eingegipst. Mein Handgelenk war gebrochen und man hatte die tiefe Wunde, die die Handschelle hinterlassen hatte, mit zehn Stichen genäht, bevor der Gips gefolgt war.

Mama setzte sich zu mir ans Bett. „Wir haben uns so schreckliche Sorgen gemacht. Die Stunden im Flugzeug, ohne zu wissen, wie es euch ging, waren eine Qual. Ich bin so froh, dass es euch beiden gut geht."

Den Umständen entsprechend, dachte ich, doch ich sagte nichts und nickte stattdessen. Mama sollte sich einfach freuen können, sie hatte sich lange genug Sorgen gemacht.

„Wie geht es dir?", wollte sie dann jedoch wissen. Sorge lag in ihrem Blick, obwohl ich genau das hatte verhindern wollen.

„Es wird heilen", antwortete ich. „Ich bekomme starke Schmerzmittel, dadurch ist der Schmerz zu ertragen. Die Ärzte sagen, ich soll mindestens eine Woche hierbleiben, bevor wir darüber nachdenken können, nach Deutschland zu gehen. Aber die Polizei wird diese Zeit ohnehin auch brauchen. Leonie kann noch nicht weg aus Australien."

Mama nickte betreten. Sie schien bis du diesem Augenblick verdrängt zu haben, weshalb sie sich so freute. Weshalb es so besonders war, Leonie zu sehen. Weil sie zehn Jahre lang vermisst worden war.

Papa und Leonie gesellten sich zu uns und wir wechselten sofort das Thema. Leonie strahlte von innen heraus. Aus ihren Augen sprach das pure Glück, die Wangen waren tränennass. Es waren Freudentränen, wie bei uns allen.

Nachdem wir uns ein wenig ausgetauscht hatten, wollten Mama und Papa die ganze Geschichte hören. Sie wollten erfahren, wie ich Leonie gefunden hatte und was danach passiert war. Wie wir letztendlich mitten im Outback gestrandet waren, auf der Flucht vor einem Drogenkartell.

„Es tut uns so leid, dass du geglaubt hast, du müsstest da alleine durch", meinte Mama, als Leonie zum Schluss von unserer Rettung erzählt hatte.

„Es ist okay, es ist ja alles nochmal gut gegangen."

Insgeheim wussten wir alle, dass ich recht gehabt hatte. Dass es nichts geändert hätte, wenn ich ihnen von dem Foto erzählt hätte. Dass sie mir geraten hätten, es bleiben zu lassen. Sie hätten mich davon abgehalten, nach Leonie zu suchen, von der sie geglaubt hätten, dass ich sie nur in dem Foto sehen wollte.

Wenn ich mich an meine Eltern oder die deutsche Polizei gewandt hätte, wäre Leonie jetzt nicht hier. Dann wäre sie noch immer bei Jonathan Müller, einem kranken Mann, der eine noch krankere Rache verübt hatte, wie wir von der Polizei erfahren hatten. Leonie wäre noch immer in Gefangenschaft und Freude ein Fremdwort für mich.

Ich hatte alles richtig gemacht, auch wenn ich teuer dafür bezahlt hatte.

„Du bist eine Heldin", ergriff Leonie plötzlich das Wort. „Meine ganz persönliche Heldin. Meine Retterin."

Ich lächelte. Ihre Worte bedeuteten mir so unheimlich viel, dass mir warm ums Herz wurde.

„Hättest du Jonathan nicht ins Lenkrad gegriffen, wären wir nun in irgendeiner Höhle in Coober Pedy", entgegnete ich. „Ich würde sagen, wir haben uns gegenseitig gerettet."

Mama und Papa lachten. „Ihr seid beide Heldinnen. Das steht außer Frage. Wir könnten nicht stolzer auf unsere beiden Töchter sein."

Leonie stand von ihrem Stuhl auf und kletterte zurück zu mir aufs Bett. Mama machte für sie Platz und trat zu Papa, der seinen Arm um ihre Schulter legte. Selig sahen die beiden uns an.

Wir waren wieder eine Familie. Eine Familie, deren Wunden endlich heilen konnten. Wir alle waren traumatisiert aus ganz verschiedenen Gründen. Die Wunden reichten unterschiedlich tief und sie würden Narben hinterlassen. Leonie würde am längsten brauchen, um sich von allem zu erholen. Aber gemeinsam als Familie würden wir das schaffen. In der gegenseitigen Liebe füreinander würden wir uns Halt geben und uns den Schutzraum bieten, den wir nun alle zusammen brauchten.

Mein Leben fing jetzt erst richtig an. Nachdem ich mir zehn Jahre lang verwehrt hatte, zu leben, Freude zu empfinden oder glücklich zu sein, konnte ich nun gemeinsam mit Leonie in ein neues Leben starten. Trotz all der Höhen und Tiefen, die vor uns lagen, freute ich mich unheimlich darauf. Denn endlich war es ein Leben, das es wert war, gelebt zu werden. Endlich gehörten Glück und Freude wieder dazu. Endlich würde ich mir erlauben, jede Sekunde voll auszukosten.

Ich konnte es kaum erwarten, dieses neue Leben zu beginnen. Mit Leonie an meiner Seite. Und an der Seite von Leonie. Gemeinsam würden wir das alles meistern.

Zu zweit stand uns nichts mehr im Weg. Zu zweit waren wir unschlagbar.

ENDE

Das Foto - EntzweitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt