21 Erwachen

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Mir fehlte jede Orientierung, als ich langsam zu mir kam. Doch als ich spürte, dass jemand bei mir lag, wusste ich sofort, wer das war. Ich wusste nicht, wo ich war, aber bei wem.

Leonie.

Ich schlug die Augen auf. Es war dunkel, nur eine kleine Lampe erhellte den Raum. Leonie schien zu schlafen. Wir lagen in einem Bett, sie kuschelte sich eng an mich.

Unendlich viele Fragen geisterten durch meinen Kopf, als ich den Blick wieder hob.

Wo waren wir? Wie waren wir hierhergekommen?

Nur langsam tröpfelten Erinnerungen in mein Gedächtnis. Schmerzen in der Brust, Lichter, Umrisse. Ein Hubschrauber.

Wie hatte man uns gefunden? Was war mit der Polizei, mit Jonathan, mit dem Drogenkartell?

Ich sah mich um. Wir schienen in einem Krankenhaus zu sein. Um das Bett herum standen Geräte. Ich warf einen Blick auf meine Schulter, die von einem Krankenhaushemd verdeckt wurde. Darunter spürte ich jedoch einen dicken Verband. Man hatte sich um meine Schusswunde gekümmert – und ich hatte überlebt. Hatte ich tatsächlich überlebt? Als wir durchs Outback gewandert und vor einem blutdurstigen Drogenkartell geflohen waren, hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, diese Wüste jemals lebend zu verlassen. Doch nun lag ich hier, atmend, am Leben.

Eine Träne lief mir über die Wange. Ich konnte es kaum fassen. Ich lebte und Leonie war bei mir! Wir waren wieder vereint und niemand würde uns je wieder trennen können. War das alles ein Traum? Es fühlte sich zumindest so an. Nach zehn Jahren der Trauer und der Qual schien es zu schön, um wahr zu sein.

Mein Blick wanderte zurück zu Leonie. Ein Pflaster prangte auf ihrer Stirn, dort, wo die Platzwunde gewesen war. Ihr linkes Bein schien in irgendeiner Weise geschient zu sein. Erleichtert atmete ich durch. Auch sie war endlich versorgt worden. Ich genoss ihre Nähe und die Tatsache, wie eng sie sich an mich gekuschelt hatte. Auch wenn es zugleich ein Stechen in meiner Brust hinterließ, tat es gut, zu wissen, dass ich ihr ein wenig Geborgenheit schenken konnte. Womöglich fühlte sie sich das erste Mal seit zehn Jahren wohl. Acht Jahre lang hatte sie angekettet in einem einsamen und tristen Zimmer geschlafen. Nun klammerte sie sich an mich wie an einen Rettungsanker. Ich war gerne dieser Rettungsanker für sie.

Erschöpft, aber zufrieden, schloss ich wieder die Augen. Ich spürte Leonies gleichmäßigen Atem, während ihre Brust sich langsam hob und senkte. Meine Mundwinkel zuckten leicht und formten ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Es war so wunderschön, dass wir uns wiederhatten.

Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, war es hell in dem Krankenhauszimmer. Mein Magen fühlte sich schrecklich an und mir war übel. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich gestern den ganzen Tag seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Vollgepumpt mit Adrenalin war mir das gar nicht aufgefallen. Jetzt starb ich beinahe vor Hunger.

Bevor ich irgendetwas anderes wahrnahm, warf sich jemand um meine Schultern. Ich zuckte zusammen, bis mir bewusst wurde, wer das war. Mein Herz ging auf.

Leonie löste sich wieder von mir und begann sofort, zu gebärden.

„Du bist wach! Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich mich freue."

Ich brachte ein schwaches Lächeln zustande. Ich freute mich auch so unheimlich, mein Herz blühte immer weiter auf vor Glück, doch das konnte ich ihr leider nicht zeigen. Ich fühlte mich elend. Wie mehrmals durchgekaut und wieder ausgespuckt.

„Wie geht es dir?", wollte Leonie unpassender Weise wissen.

„Ich habe schrecklichen Hunger", entgegnete ich knapp und ließ dabei die Hälfte der Wahrheit aus.

Leonie sah mich besorgt an. „Ich kümmere mich sofort darum."

Schon war sie verschwunden. Erschrocken sah ich, dass sie auf Krücken ging. Ich schluckte. Wie schwer war die Verletzung an ihrem Bein? Es dauerte nicht lange, da tauchte Leonie wieder auf. Vermutlich hatte sie nur schnell jemandem gesagt, dass ich etwas zu essen brauchte.

„Was ist mit deinem Bein?", fragte ich sofort und sie sah einen Moment beschämt zu Boden, ehe sie wieder aufblickte.

„Es ist angebrochen. Aber es ist alles okay, es tut nicht weh."

Angebrochen? Fassungslos sah ich sie an. Dass es nicht wehtat, war bestimmt eine Lüge. Sie wollte mir nur kein schlechtes Gewissen machen. Verdammt, sie war gestern zwei bis drei Stunden mit einem angebrochenen Bein durch die Wüste gehumpelt und als wäre das nicht schlimm genug gewesen, hatte sie auch noch die ganze Zeit mich stützen müssen. Sie musste schreckliche Schmerzen gehabt haben!

„Es ist wirklich okay, Luisa. Mach dir keine Sorgen."

Mein Blick musste meine Gedanken verraten haben. Ich war noch immer sprachlos.

„Es ist vorbei. Es ist alles gut."

„Du... Es tut mir leid, ich..." Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. „Was ist überhaupt passiert?", fragte ich schließlich. Schon in der Nacht hatte mich diese Frage beschäftigt, nun hatte ich die Chance, eine Antwort darauf zu erhalten – auch wenn ich mich kaum konzentrieren konnte. Mein Hirn war Matsch, ich war müde und fühlte mich benommen. Waren das noch Nachwirkungen des Kokains? Oder waren es irgendwelche Medikamente? Schmerzmittel?

Leonie setzte sich zu mir aufs Bett und nun, da sie mir näher war, sah ich eine Wärme in ihren Augen, die ich gestern schmerzlich vermisst hatte. Es gefiel mir ungemein. „Wir wurden gerettet!", antwortete sie knapp. Sie schien es selbst noch nicht glauben zu können. „Ein Farmer hat von oben den VW-Bus entdeckt und sofort die Polizei verständigt. Als sie gekommen sind, war das Drogenkartell bereits auf der Suche nach uns. Vier Männer wurden in der Wüste aufgesammelt, alle schwer bewaffnet. Einer war nur hundert Meter von uns entfernt. Wäre die Polizei zehn Minuten später gekommen, wären wir womöglich beide gestorben. Diese Monster haben sich von den Helikoptern nicht aufhalten lassen, wichtiger war ihnen, mich zu finden und zu töten. Ich weiß zu viel."

Schon wieder war ich sprachlos. Wie knapp waren wir dem Tod entgangen?

„Als wir hier angekommen sind... Du wurdest sofort in den OP gebracht. Ich hatte schreckliche Angst um dich."

Ihre Augen schienen genau das widerzuspiegeln, was sie in diesen Stunden durchgemacht hatte. Es tat mir im Herzen weh.

Auch Leonie war versorgt worden, während ich im OP gewesen war. Vorher hatte sie niemanden an sich herangelassen. Außerdem war sie während meiner Abwesenheit von der Polizei befragt worden, sie hatte allerdings nur kurz angebundene Antworten gegeben, weil sie nur ungeduldig darauf gewartet hatte, dass ich zurückkam. Dass man ihr sagte, dass ich die OP gut überstanden hatte und überleben würde. Sie musste so schrecklich gelitten haben, ganz alleine. Man hatte ihr zwar jemanden zur Seite gestellt, aber sie hatte nicht die Unterstützung einer Fremden gebraucht. Sie hätte mich gebraucht. Mich oder unsere Eltern.

„Aber du hast es geschafft! Du wirst wieder gesund, Luisa. Die Kugel ist knapp an deiner Lunge vorbei. Die Ärzte sagen, du hattest großes Glück. Ein Zentimeter tiefer und du hättest niemals lange genug überlebt, bis die Rettung kam."

Hatte ich mich gestern noch als den größten Pechvogel der Welt betrachtet, schien ich heute plötzlich ein unglaublicher Glückspilz zu sein. Ein Zentimeter tiefer oder zehn Minuten später und mein Leben wäre vorbei gewesen. Es war so unfassbar unwahrscheinlich, dass ich noch lebte. Es glich zweifellos einem Wunder.

„Und weißt du, was das Beste ist?"

Fragend sah ich meine Zwillingsschwester an, von der ich noch immer nicht recht glauben konnte, dass sie tatsächlich in Fleisch und Blut vor mir stand. Dass ich sie mir nicht einbildete. Es war so normal, mich mit ihr zu unterhalten, dabei hatten wir uns zehn Jahre lang nicht gesehen. Ich hatte sie zehn Jahre lang schrecklich vermisst und jeden Tag darunter gelitten. Jetzt war es so, als wären wir nie getrennt gewesen.

„Mama und Papa sind auf dem Weg hierher! Sie werden in wenigen Stunden da sein. Ich bin so aufgeregt!"


Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now