1 Ankunft

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„Warum muss es denn unbedingt Australien sein? Das ist so schrecklich weit weg!"

Obwohl Mama nicht begeistert gewesen war, stand ich nun am Flughafen von Sydney und konnte es noch immer nicht fassen. Ich war hier! Solange ich denken konnte, hatte ich davon geträumt, einmal nach Australien zu reisen. Die wichtigsten Ziele auf meiner Liste waren Sydney und der Uluru im Zentrum von Australien, mitten im Outback. Ich konnte noch nicht wirklich wahrhaben, dass sich dieser Traum nun tatsächlich erfüllte – auch wenn der Hintergrund meiner Reise weniger erfreulich war.

„Ich muss das tun, Mama."

Mama wusste genau, was ich damit meinte.

Leonie, komm zurück!

Noch immer hallten meine eigenen stummen Schreie durch meine Gedanken. Ein verzweifelter Ruf, der niemals erhört worden war. Seit Leonie vor zehn Jahren verschwunden war, litt ich unter dem Trauma, dass ich bei ihrer Entführung hilflos hatte zusehen müssen, ohne es verhindern zu können. Mit dem Verlust meiner Zwillingsschwester hatte mein Leben, wie ich es kannte, aufgehört. Als hätte man den Stoppschalter gedrückt und ich hätte seither selbst nur passiv zugesehen. Auf Autopilot. In sicherem Abstand zu meinen Gefühlen, die mich innerlich zerfraßen. Die den Teil in mir vermissten, der Leonie gehörte und den sie niemals wieder hatten füllen können.

Jahrelang war ich von Albträumen heimgesucht worden, Nacht für Nacht. Bis heute war es mir nicht gelungen, den Verlust zu verarbeiten. Alle Therapiesitzungen hatten nichts gebracht. Nichts und niemand konnte jemals eine Seelenverwandte ersetzen, wie Leonie es war. Kein Gespräch der Welt konnte etwas daran ändern, wie sehr sie fehlte. Stattdessen hatte ich mich in Arbeit gestürzt, hatte den ganzen Tag für die Schule gelernt und war fleißiger gewesen als alle meine Mitschüler. Trotz meiner Gehörlosigkeit hatte ich nun ein Abitur mit einem Schnitt von 1,2 in der Tasche. Das war für eine Gehörlose durchaus außergewöhnlich. Für mich war es das nicht. Denn es war lediglich das Ergebnis meines Versuchs, die grausamen Gedanken zu verdrängen. Wann immer ich nichts zu tun hatte, musste ich an Leonie denken. Daran, wie es ihr wohl ging. Ob sie leiden musste. Ob sie noch am Leben war. Wie es ihr seit ihrer Entführung ergangen war. Wer kein Zwilling war, konnte vermutlich niemals nachvollziehen, welch enge Bindung zwischen Zwillingen bestand. Leonie war meine zweite Hälfte, ohne sie war ich nie wieder vollständig gewesen. Bis heute nicht. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte. Und jeder dieser Gedanken schmerzte meine zerbrochene Seele.

Meine Reise nach Australien war nun ein Versuch, mein Trauma zu überwinden und ausnahmsweise etwas zu tun, was mir guttat. Abschied zu nehmen vom Autopiloten und aktiv mein Leben zu gestalten. Etwas tun, woran ich Freude hatte. Jahrelang hatte ich mir so etwas nicht gestattet. Denn meine Schwester empfand bestimmt auch keine Freude – falls sie noch lebte.

„Aber willst du nicht wenigstens jemanden mitnehmen? Du kannst doch nicht alleine reisen!"

„Doch, das kann ich!"

Es gab genügend Möglichkeiten, mich meinen Mitmenschen verständlich zu machen. Meistens tippte ich das, was ich sagen oder fragen wollte, einfach in mein Handy ein, sodass mein Gegenüber es lesen konnte, wenn er oder sie keine Gebärdensprache beherrschte. Das klappte gut. Ich brauchte niemanden, der mich begleitete, um zu dolmetschen. Englisch hatte ich in der Schule gelernt und wie in den meisten Fächern hatte ich es mit einer Eins im Zeugnis abgeschlossen. Ich konnte mich schriftlich auf Englisch verständigen, das war überhaupt kein Problem.

„Ich kann dich davon nicht abbringen, oder?"

Sie hatte Angst, auch noch ihre zweite Tochter zu verlieren. Auf so einer Reise konnte ihrer Meinung nach so viel passieren. Ich verstand das, aber es würde nichts ändern.

Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now