7 Fragen

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Als ich Leonie und ihren Entführer erreichte, bedeutete dieser mir, ihnen voraus ins Haus zu gehen. Ich bewegte mich wie in Trance, konnte nicht begreifen, was gerade passierte. Leonie rappelte sich vom Boden auf und stolperte zur Tür, um sie mir zu öffnen. Mir kam sie vor wie der Schlund zur Hölle. Was erwartete mich, wenn ich eintrat?

Ein Schubs von hinten ließ mir keine andere Wahl. Ich zuckte zusammen und setzte einen Schritt vor den anderen. Meine Knie fühlten sich an wie Pudding. Alles in mir schrie dagegen an, dieses Haus zu betreten.

Als ich den Flur erreicht hatte, stockte mir der Atem und ich erstarrte. Entsetzt sah ich nach rechts und links und wieder nach rechts, wieder nach links. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Das musste ein Traum sein, ich musste hinter dem Busch eingeschlafen sein und wirres Zeug träumen. Was ich sah, ergab keinen Sinn und es erschütterte mich in Mark und Bein.

Der ganze Flur hing voll mit Bildern. Aber nicht mit irgendwelchen Bildern. Das war ich! Überall! Mit zehn, mit elf, im Teenie- und Jugendalter und heute. Teilweise war auch meine kleine Nachbarin mit auf den Bildern, beispielsweise auf dem Spielplatz. Ich passte manchmal auf sie auf, wenn ihre Eltern keine Zeit hatten. Sie konnte inzwischen richtig gut gebärden. Aber was um alles in der Welt hatten diese Bilder hier zu suchen? Und vor allem: Wer hatte sie aufgenommen? Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich begriff, dass ich über Jahre hinweg beobachtet und fotografiert worden war. Aber von wem? Und wie hatten die Fotos ihren Weg in diesen Hausflur gefunden?

Meine Knie gaben nach und ich sackte willenlos zu Boden. Sofort war Leonie zur Stelle und griff mir unter die Arme. Ihre Berührung durchfuhr mich wie ein Blitz, der mit einem Mal die Ketten in mir sprengte. Ketten der Trauer und des jahrelangen schmerzhaften Vermissens. Leonie berührte mich! Sie war mir so nah wie seit zehn Jahren nicht mehr!

Tränen traten mir in die Augen. Die Fotos waren vergessen, ich sah Leonie das erste Mal von nahem vor mir. Ihre Gesichtszüge waren härter als meine, die Augen von einer Traurigkeit geprägt, die mich tief erschütterte. Ich spürte das ungebändigte Verlangen, mich ihr um den Hals zu werfen, sie zu umarmen und nie wieder loszulassen. Ihr alles zu erzählen, was die letzten zehn Jahren geschehen war und sie auszufragen, wie es ihr ergangen war. Wie lange hatte ich von einem solchen Moment geträumt? Würde er nun endlich in Erfüllung gehen? Würde ich sie endlich ganz nah bei mir spüren, unsere beiden Herzen wieder vereint? Ich hob meine Hand zu ihrem Gesicht und wollte es gerade zitternd berühren, als mein Arm gnadenlos weggeschlagen wurde. Schockiert sah ich nach oben und erblickte John Miller – falls er denn so hieß – über mir. Wütend sah er mich an und forderte mich mit Gesten auf, aufzustehen und weiterzugehen. Augenblicklich wurde ich von Schmerz erfüllt, der wie Gift durch meine Adern sickerte, bis er jede Faser meines Körpers erreicht hatte. Schmerz darüber, meine Schwester nicht umarmen zu dürfen. Ihr nicht nahe sein zu können, nachdem ich sie endlich gefunden hatte. Ich ertrug das nicht mehr!

„Es tut mir leid", gebärdete Leonie. Angestrengt versuchte ich den Schmerz von mir abzuschütteln. Ich musste einen klaren Kopf bewahren, bis mein Traum in Erfüllung ging. Sonst war ich zu unaufmerksam und verpasste womöglich den entscheidenden Moment, der zur Rettung verhelfen konnte. Leonies Blick wanderte zu den Bildern an der Wand, wodurch sie auch meine Aufmerksamkeit wieder darauf lenkte. Sie wusste, weshalb ich zusammengebrochen war. „Deshalb habe ich zehn Jahre lang getan, was immer er wollte. Und deshalb habe ich dich erkannt."

Schockiert starrte ich sie an, doch ich hatte keine Zeit, mich bei ihr für all das Leid zu entschuldigen, das sie offensichtlich auf sich genommen hatte, um mich zu beschützen. Ich verstand nun den Sinn der Fotos. Sie hatten Leonie vor Augen geführt, dass der Mann auch mich zu sich holen könnte, wenn sie etwas falsch machte oder sie sich bei etwas weigerte. Vielleicht hatte er ihr auch gedroht, dass mir etwas zustoßen könnte. Aber eine Frage blieb: Wer hatte die Fotos gemacht? Wohnte jemand in unserer Nähe, der mir zehn Jahre lang zur Gefahr hätte werden können?

Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now