19 Zu spät?

136 42 12
                                    

Es war zum Verzweifeln. Von Leonie und Luisa Hauser fehlte noch immer jede Spur. Trevor war kein frommer Mann, doch heute hatte er schon mehrmals gebetet.

Wenigstens machten die Ermittlungen langsam Fortschritte. Die Verbindung zwischen Susanne Hauser und Jonathan Müller war inzwischen bestätigt worden. Trevor konnte es noch immer nicht fassen. Jonathan Müller war ein ehemaliges Pflegekind. Er und Susanne Hauser hatten zehn Monate bei derselben Pflegefamilie gelebt. Bei den Eltern, die Susanne schließlich adoptiert hatten, während Jonathan nach einem dramatischen Vorfall von der Polizei verhaftet und schließlich in eine Entzugsklinik gekommen war. Volker und Sabine Hinz hatten ihn dort noch besucht, doch er war ablehnend gewesen und hatte sich aggressiv verhalten. Nachdem er die Klinik verlassen hatte, hatte Familie Hinz nie wieder etwas von ihm gehört.

Susanne Hauser selbst hatte all die Vorfälle, die sie in den zehn Monaten des Zusammenlebens mit Jonathan Müller erlebt hatte, verdrängt. Ein Schutzmechanismus. Sie hatte verdrängt, wie der Junge sie behandelt hatte – bis zu jenem Moment, in dem sie seinen Namen im Zusammenhang mit der Entführung ihrer Tochter gehört hatte. Erst dann, fünfunddreißig Jahre, nachdem sie von ihm misshandelt worden war, hatte sie sich an seine Drohung erinnert. Eine Drohung, von der nie jemand etwas erfahren hatte. Niemand außer Susanne hatte davon gewusst. Denn Jonathan hatte die Drohung nie laut ausgesprochen und Susanne war die Einzige gewesen, die seine Lippen hatte lesen können.

Nachdem Jonathan aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sie das alles verdrängt und niemand hatte je eine Verbindung gezogen zwischen einem narzisstischen Jungen, mit dem sie einmal zusammengelebt hatte, und der Entführung ihrer Tochter. Doch er hatte seine Drohung ernst gemeint.

„Das wirst du bereuen."

Er hatte dafür gesorgt, dass Susanne es bereuen musste, ohne dass sie je gewusst hatte, wofür sie bezahlte. Jonathan Müller wiederum hatte seine Rache vermutlich jeden Tag von neuem ausgekostet. Deshalb hatte er Leonie nicht getötet. Deshalb hatte er sie zehn Jahre lang leben lassen. Jeden Tag, an dem er sie gesehen und womöglich hatte leiden lassen, hatte er sich daran ergötzen können, Susanne Hauser dafür bestraft zu haben, dass sie ihm vor so vielen Jahren seine Familie weggenommen hatte. Nun hatte er ihre perfekte Familie zerstört. Das war seine Rache. Und er war zehn Jahre damit davongekommen, weil Susanne Hauser sich nicht mehr an seine Drohung erinnert hatte.

Trevor wollte sich gar nicht vorstellen, was Leonie in dieser Zeit durchgemacht hatte. In welcher Weise er seine Wut womöglich an ihr ausgelassen hatte.

Die deutschen Kollegen waren bei ihren Ermittlungen auch auf einen Mann gestoßen, der in derselben Straße wie Familie Hauser lebte. Jonathan Müller hatte ihn in der Entzugsklinik kennengelernt und seither waren sie offenbar Freunde. Simon Wenger war ein sehr leicht beeinflussbarer Junge gewesen. Das hatte ihn damals schon in die Drogensucht getrieben und Jonathan Müller hatte diesen Umstand schamlos ausgenutzt. Er hatte ihn manipuliert und für seine Zwecke missbraucht. Die deutschen Kollegen hatten ihn eigentlich nur zu einer Befragung mit aufs Revier nehmen wollen, doch Wenger hatte versucht zu fliehen und sich vehement gewehrt. Daraufhin war er verhaftet und ein Durchsuchungsbefehl für seine Wohnung beantragt worden. Was die Kollegen dort gefunden hatten, war erschreckend. SD-Karten mit Fotos, die zehn Jahre zurückreichten. Simon Wenger hatte Luisa Hauser all die Jahre beobachtet und fotografiert. Vermutlich hatte er diese Fotos für Jonathan Müller gemacht. Die deutschen Ermittler hofften nun, dass sie Simon Wenger ebenso beeinflussen konnten wie Jonathan Müller das getan hatte, um von ihm zu erfahren, zu welchem Zweck er diese Fotos gemacht hatte. Und um herauszufinden, ob er wusste, wohin Müller mit den Mädchen verschwunden war. Denn sie hatten nach wie vor keine Ahnung, wo sie suchen sollten.

Trevor hoffte, dass Simon Wenger etwas wusste, denn andernfalls war er mit seinem Latein am Ende. Er hatte die Landkarte studiert, doch es war zwecklos. Es –

Moment!

Plötzlich ging ihm etwas auf: Farmen! Trevor rannte zu seinen Vorgesetzten, die ihn erzürnt ansahen, als er ohne zu klopfen in das Büro stürmte.

„Die Farmen!", rief er atemlos.

Fragende Blicke flogen ihm entgegen.

„Wir haben sie bisher nur als Fluchtmöglichkeit für Jonathan Müller betrachtet. Aber wir können sie zu unserem Vorteil nutzen! Die Farmen sind über die ganze Landkarte verstreut. Farmen, die oft so fernab jeder Zivilisation sind und tausende Hektar an Land überblicken müssen, sodass sie eigene Kleinflugzeuge oder Hubschrauber besitzen."

Sein direkter Vorgesetzter schien zu verstehen, worauf er hinauswollte. Erkenntnis blitzte in seinen Augen auf.

„Wir sollten die Farmer in die Suche miteinbeziehen."

Sofort schlug die bedrückte Laune in dem Raum um. Sein Vorschlag wurde mit Begeisterung angenommen. Jeder hier im Polizeirevier klammerte sich an jeden kleinsten Strohhalm, der zur Errettung der Zwillinge führen konnte. Und was Trevor vorgeschlagen hatte, war ein großer Strohhalm.

Keine halbe Stunde später waren alle Farmer der Gegend informiert. Nun waren neben den hunderten Kräften am Boden nicht nur Polizei- und Rettungshubschrauber in der Luft, um nach Leonie und Luisa zu suchen, sondern auch alle Farmer der weiten Umgebung.

Trevor hoffte zutiefst, dass sie die beiden Mädchen mit Hilfe all dieser Menschen endlich finden konnten. Denn dass es inzwischen dunkel war, war äußerst beunruhigend. Sie hatten bereits so viel Zeit verloren! Jonathan Müller konnte überall sein. Leider war er bisher bei keiner Straßensperre aufgetaucht, was bedeutete, dass er entweder quer durchs Outback fuhr, auf kleinen Nebenstraßen, vorbei an den Städten, oder dass er Zugang zu einem Flugzeug gehabt hatte. Womöglich war er längst verschwunden. Doch falls er sich irgendwo im Outback befand, irgendwo in den unendlichen Weiten dieses Landes, konnte er hoffentlich aus der Luft gefunden werden.

Zu viele Stunden waren vergangen, seit Jonathan Müller vermutlich mit beiden Mädchen die Farm verlassen hatte. Sie mussten Leonie und Luisa finden, bevor der Mann sie für immer verschwinden ließ – oder einer von ihnen etwas antat, weil er mit zwei Mädchen nicht klarkam.

Trevor hatte schreckliche Angst, dass sie bereits zu spät waren.


Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now