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Jemand berührte mich sanft an der Schulter. Ich öffnete die Augen und sah Leonie vor mir sitzen. In der Hand hielt sie ein kleines in Folie gewickeltes weißes Paket. Drogen.

„Das ist Kokain. Es wird dir helfen."

Ich wollte das beim besten Willen nicht, aber die Vorstellung, die Schmerzen loszuwerden oder wenigstens abzumildern, war doch sehr verlockend. Also nickte ich nervös.

Leonie riss die Folie auf und nahm ein wenig Pulver auf ihren Handrücken, nachdem sie das Blut bestmöglich an ihrem T-Shirt abgewischt hatte.

„Du musst es in die Nase ziehen. So tief wie möglich."

Ich zögerte. Wollte ich das wirklich? Wollte ich wirklich Drogen nehmen?

„Es ist eine Ausnahme, Luisa. Du musst es danach nie wieder nehmen, aber ich habe keine andere Möglichkeit, dir zu helfen. Bitte lass mich dir helfen. Lass mich dir wenigstens die Schmerzen nehmen."

Geschlagen beugte ich mich ihr entgegen. Ich konnte nicht fassen, dass ich im Begriff war, Kokain zu schnupfen. Doch harte Situationen verlangten drastische Maßnahmen. Das Kokain würde mir helfen, bei Bewusstsein zu bleiben. Denn worunter ich am meisten litt, waren die Schmerzen.

„Hier, trink ein bisschen was", meinte Leonie, als ich mich wieder an den VW-Bus lehnte, und streckte mir eine Wasserflasche entgegen.

Sofort schüttelte ich den Kopf. „Du wirst das Wasser brauchen, Leonie. Womöglich kommt erst in ein paar Tagen jemand hier vorbei. Verschwende das Wasser nicht an mich. Ich... ich werde vermutlich ohnehin nicht so lange überleben."

Entsetzt sah Leonie mich an. „Du brauchst das Wasser viel mehr als ich! Du verlierst Blut, du brauchst Flüssigkeit."

Ich wollte gerade protestieren, als Leonies Blick plötzlich erstarrte. Nein, nicht nur ihr Blick, ihr ganzer Körper. Was war los? Die Wasserflasche rutschte aus Leonies Hand und ich war erleichtert, dass sie noch geschlossen war. Sonst hätten wir einen wertvollen Liter Wasser verloren.

„Was ist los?", gebärdete ich. Leonie schien wie unter Schock zu stehen. Was hatte sich denn so plötzlich verändert? Ich verstand das nicht. Hatte sie eine Verletzung, von der ich nichts wusste? Ging es ihr eigentlich viel schlechter, als sie mir weismachen wollte?

Irgendwann wanderte Leonies Blick wieder zu mir. Nur langsam schienen ihre Augen ihren Fokus zurückzuerlangen.

„Wir... wir haben beide keine Tage mehr Zeit", gebärdete sie stockend. Ich konnte geradezu sehen, wie heftig ihr Herz schlug. „Jonathan... er hat gerade das Drogenkartell angerufen. Sie sind auf dem Weg hierher, um die Drogen sicherzustellen, bevor jemand anderes hier vorbeikommt. Und um Jonathan zu holen. Und... um uns zu töten."

Mir stockte der Atem, ich sah sie voller Entsetzen an.

„Wie... wie viel Zeit bleibt uns?"

„Sie werden in ein paar Stunden da sein."

Wir wussten beide, was das bedeutete, und es erfüllte mich mit Grauen. Die Leute vom Drogenkartell würden vermutlich vor jeder Rettung hier sein. Wir konnten nicht beim Bus bleiben, mussten fliehen, wenn wir überleben wollten. Wenn wenigstens Leonie überleben wollte. Würde ich eine Flucht überhaupt schaffen?

„Wir müssen weg von hier, Luisa. Wenn wir hierbleiben, sind wir in ein paar Stunden tot."

Ich starrte in die Ödnis, die uns umgab, und fragte mich, wohin wir fliehen sollten. Wo sollten wir uns verstecken? Wie weit würden wir überhaupt kommen? Würden die Männer vom Drogenkartell uns nicht innerhalb kürzester Zeit in der Nähe finden? Wie um alles in der Welt sollten wir uns retten können?

„Du musst alleine fliehen, Leonie", stellte ich schließlich benommen fest. „Ich halte dich nur auf. Mit mir bist du viel langsamer. Du musst so weit weg von hier, wie nur möglich. Ich werde die Männer aufhalten. Sie werden von mir wissen wollen, wo du bist, und ich werde nichts verraten, solange ich kann. Damit kann ich dir vielleicht ein wenig mehr Zeit verschaffen."

„Spinnst du?" Leonie war fassungslos. „Ich lasse dich nicht hier. Sie werden dich foltern, bevor sie dich sterben lassen. Ich bin zu wichtig."

Das war mir bewusst. Deshalb sagte ich ja, dass es ihr Zeit verschaffen würde. Sie würden mich nicht einfach töten, sie würden zuerst herausfinden wollen, wo Leonie war. Der Gedanke ließ jeden meiner Muskeln erstarren in der Erwartung grausamer Schmerzen. Übelkeit überkam mich, wenn ich nur daran dachte. Aber ich hoffte, dass ich die Folter lange genug überlebte, bis Leonie in sicherer Entfernung war.

„Ich werde eine Flucht genauso wenig überleben wie Folter, Leonie. Wenn wir uns verstecken müssen, wird nicht nur das Drogenkartell, sondern auch die Polizei uns nicht finden." Meine Hände zitterten beim Gebärden, weil ich mir dessen bewusst war, wie grausam das war, was ich sagte. „Lass mich hier, dann hast wenigstens du eine höhere Chance, weit genug von hier wegzukommen, dass diese Monster dich nicht finden."

„Nein." Ein sehr eindeutiges Nein. „Du bist gekommen, um mich zu retten. Ich überlasse dich nicht den dreckigen Fingern des Kartells. Lieber sterbe ich."

Leonie ließ mich nicht noch einmal widersprechen, sondern stand entschieden auf.

„Ich packe Wasser, Proviant und das restliche Verbandsmaterial ein. Dann verschwinden wir von hier."

In ihrer Zuversicht schien sie zu vergessen, in welchem Zustand ich war. Eine Kugel steckte in meiner Brust oder hatte sogar meinen ganzen Körper durchlöchert und war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Die Drogen stiegen mir langsam zu Kopf und ich spürte ein seltsam surreales, heiteres Gefühl, das so ganz und gar nicht zu unserer Situation passte. Ich war Leonie nur ein Klotz am Bein.

„Gib mir noch mehr Kokain, dann wird es mir egal sein, wenn sie mich foltern."

„Du denkst nicht mehr klar. Ich nehme dich mit. Wenn du... wenn du heute sterben solltest, stirbst du in meinen Armen. Nicht in den Händen von Monstern."

Tränen standen in ihren Augen. Verdammt, unsere Lage war so grausam. Warum mussten wir uns plötzlich mit solchen Themen auseinandersetzen? Tod, Folter, Flucht, Drogen, Opfer füreinander. War gestern nicht noch alles verhältnismäßig normal gewesen in meinem Leben? Hatte ich mich da nicht noch auf einen Roadtrip ins Outback gefreut? Wie hatte sich nur alles so schnell und so drastisch ändern können?

Doch es fiel mir schwer, weiter darüber nachzudenken. Das Kokain zeigte Wirkung. Ich fühlte mich ungewöhnlich leicht, während ich blutend, angeschossen und mit gebrochenem Handgelenk an einem verunfallten VW-Bus mitten in der Hitze des Outbacks lehnte.

„Komm."

Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Wie lange hatte Leonie gebraucht, um alles zusammenzupacken und in einem kleinen Rucksack, den sie ebenfalls hinten im Kofferraum gefunden haben musste, zu verstauen?

Sie streckte mir ihre rot verklebten Hände entgegen und ich ergriff sie mit der rechten Hand. Keuchend kam ich auf die Beine. Alles um mich herum drehte sich, meine Schulter pochte wie wild. Ohne Leonies Stütze wäre ich sofort wieder zu Boden gegangen.

„Wir gehen in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind. Damit entfernen wir uns hoffentlich von den Kerlen, die uns jagen werden, und nähern uns vielleicht der Polizei. Aber wir müssen weg von der Straße, weit genug in die Wüste. Schaffst du das?"

Blieb mir denn viel anderes übrig, als es zu versuchen? Torkelnd machte ich den ersten Schritt, dann zogen wir los. Weg vom schützenden Schatten des VW-Busses, weg von dem Ort, an dem die Polizei uns am leichtesten hätte finden können.

Aber auch weg von den Drogen, weg von einem kranken Entführer und weg von einem Drogenkartell, das uns tot sehen wollte.

Unsere Aussichten waren ausgesprochen düster.

Würde überhaupt eine von uns diesen Tag überleben?


Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now