16 Vor 35 Jahren

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Triggerwarnung:

Dieses Kapitel beinhaltet die Themen Unterdrückung und Misshandlung (kein Missbrauch) unter Geschwistern und Jugendlichen. Die Abschnitte, die diese Themen behandeln, habe ich kursiv gedruckt und mit größeren Absätzen abgegrenzt. Wer also Schwierigkeiten mit diesen Themen hat, sollte die kursiven Teile nicht lesen und sie überspringen. Den Rest des Kapitels könnt ihr ganz normal lesen.

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Vor zwei Wochen war sie zehn geworden. Sie hatte nur einen einzigen Geburtstagswunsch gehabt: eine Familie. Niemals hätte sie geglaubt, dass sich dieser Wunsch so schnell erfüllen würde.

Aufgeregt umklammerte sie ihren Koffer, während sie mit Frau Altheimer auf der Türschwelle zu ihrem neuen Zuhause stand. Frau Altheimer brachte sie zu ihrer neuen Pflegefamilie. Bisher war sie nie lange irgendwo geblieben, weil niemand mit ihr klargekommen war. Niemand konnte gebärden, niemand konnte sie verstehen. Wenn sie ausrastete, glaubten die anderen, sie wäre ein böses Kind. Aber sie war nicht böse. Sie war nur frustriert. So schrecklich frustriert, wenn sie nicht verstanden wurde. Wenn sie nicht das bekam, was sie wollte oder brauchte, weil niemand begriff, was das war. Aber bei Familie Hinz würde das anders werden. Frau Hinz war die Tochter gehörloser Eltern – die leider schon verstorben waren – und DGS war ihre zweite Muttersprache. Susanne hoffte sehr, dass sie sich hier wohlfühlen würde.

„Du musst nicht nervös sein, Susanne. Du hast die beiden doch schon kennengelernt. Sie sind ganz nette Leute."

Frau Altheimer hatte sich das Nötigste an Gebärden beigebracht, um einigermaßen mit ihr kommunizieren zu können, als sie in das Heim gekommen war. Susanne rechnete ihr das sehr hoch an. Aber egal, was Frau Altheimer sagte, Susanne war trotzdem schrecklich nervös. Sie wollte alles richtig machen, wollte nicht wieder eine Familie verlieren. Dieses Mal wollte sie bleiben. Für immer.

Familie Hinz hatte eine leibliche Tochter, die sechzehnjährige Maria, und einen Pflegesohn. Jonathan war drei Jahre älter als Susanne und seit fünf Jahren Teil der Familie. Susanne freute sich darauf, endlich „echte" Geschwister zu haben. Zumindest hoffte sie, dass es echte Geschwister werden würden.

Ihre eigenen Eltern hatten sie weggegeben, als sie zehn Monate alt gewesen war und man festgestellt hatte, dass sie gehörlos war. Alle möglichen Menschen hatten ihr seither erklärt, dass das nicht daran gelegen hatte, dass sie Susanne nicht liebten, sondern dass sie von der Diagnose überfordert gewesen waren. Dass der Schock für sie zu groß gewesen war. Susanne verstand das nicht. Sie war doch nicht krank oder entstellt, sie hörte einfach nur nicht. Warum hätte ihre Eltern das so schockieren sollen? Sie liebten Susanne nicht, das war die einzige Erklärung für sie, ganz egal, was die anderen behaupteten.

Hoffentlich würden Herr und Frau Hinz sie mehr lieben. Volker und Sabine, wie sie sie nennen durfte. Sie hatten ihr bereits ihre Gebärdennamen verraten.

„Na wen haben wir denn da?", wurde Susanne gebärdend empfangen, als die Tür sich öffnete. Sofort fühlte sie sich wohl. „Kommt rein."

Hier wollte sie bleiben. Für immer.

Mit Maria verstand sie sich super. Sabine hatte ihr das Gebärden beigebracht. Bis vor sechs Jahren hatte sie es auch noch gebraucht, wenn sie ihre Großeltern besuchte. Maria freute sich darüber, es wieder regelmäßiger benutzen zu können, um die Gebärden nicht zu vergessen. Manchmal gebärdete sie auch mit ihrer Mutter, aber meistens sprachen sie in der Lautsprache miteinander. Zumindest war es, bevor Susanne gekommen war, so gewesen. Seit sie da war, gaben die beiden sich große Mühe, auch wenn sie miteinander sprachen zu gebärden, sodass Susanne alles mitbekam. Sie fühlte sich so integriert wie noch nie in ihrem Leben. Es war wunderschön.

Das Foto - EntzweitWhere stories live. Discover now