Kapitel 20

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Die große Tür schwang geräuschlos auf und gab den Blick auf einen hellen Gang frei. Es war absolut still, nur unser gleichmäßiges Atmen war zu hören. Im Inneren ebenfalls ausnahmslose Stille. Mein Onkel überschritt als Erster die Schwelle und ging mit einem, für meinen Geschmack fast schon gespieltem, selbstbewussten Gang hinein. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, das Weiß der Knöchel konnte ich sogar von meinem Platz ausmachen. Trotzdem blieb ich stumm und wagte nicht irgendetwas Falsches zu sagen. Seit unserer Ankunft verhielten sich er und uns begegnete Nephilim geradezu feindselig. Es musste in der Vergangenheit etwas gegeben haben, dass fatale Auswirkungen auf die Beziehung zwischen ihn und den Engeln hatte, dessen war ich mir sicher. Aber momentan sollte ich mich wohl lieber auf das konzentrieren, was vor mir lag: Der Weg zu meinem Vater.

Zu sagen ich wäre nervös, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Glaubte ich zumindest. Noch nie in meinem Leben war ich so aufgeregt jemanden zu treffen, der mich neben bei bemerkt, noch nicht einmal richtig kannte. Gesehen hatte ich ihn wenigstens einmal kurz, doch das reichte mir bei Weitem nicht. Es war mir klar, dass viele Nephilim ihr engelsgleiches Elternteil nie zu Gesicht bekamen, wie mir von meinen Freundinnen mehrmals erklärt wurde. Auch sie hatten dieses Glück noch nicht erfahren und waren sich sicher, solch eine Begegnung auch in Zukunft nicht haben zu können.

Ein sanfter Druck auf meinem Rücken ließ mich aus meinen trübseligen Gedanken schrecken. Meine Mutter schob mich sachte vorwärts durch die weit geöffnete Tür. Die Füße gehorchten mir noch und trugen mich ein bisschen stolpernd in die gewünschte Richtung, meine Knie fühlten sich jedoch wie Pudding an und zitterten zwischendurch. Mein Gott, wenn ich mich nicht zusammenriss, würde mein Vater vor mir ein zitterndes Häufchen Nervosität erblicken! Das wollte ich auf keinen Fall und versuchte mich also zu entspannen. Tief durchatmen war immer die beste Idee, dazu noch Augen schließen und an etwas Schönes denken, wie dieser unglaublich atemberaubende Wald, den wir in Alamae am Anfang gesehen hatten, und schon stellte sich mein winzig kleiner Optimismus wieder an.

„Kommst du?" brachte mich eine weibliche Stimme dazu, die Augen ruckartig zu öffnen. Mal wieder standen alle Gracelands vor mir, waren bereit zum Aufbruch und ich stand einfach nur da, die Letzte, wie immer.

„Oh ja, natürlich!" antwortete ich schnell und legte ein paar Meter zurück, um zu ihnen zu stoßen. Sie setzten sich ebenfalls in Bewegung und führten mich gewissermaßen durch den gigantischen Flur. Er war bestimmt um die zehn Meter breit, aber garantiert mindestens dreifach so hoch. Gold, Silber und eine Menge an bronzener Farbe vermischten sich und zogen sich die dadurch wirkenden, edlen Wände hinauf, welche schräg verliefen, sodass sich die gegenüberliegenden an der Decke berührten. Ein bogenförmiger, langer und vor allem hoher Tunnel, so wirkte der Gang auf mich. Aber im Gegensatz zu einem düsteren Tunnel war es so hell wie im Tageslicht. Die Wände und der Fußboden schienen zu strahlen und mit jedem Druck umso stärker. Fasziniert beobachtete ich hinter uns die bronze leuchtenden Fußabdrücke, die nach wenigen Sekunden langsam wieder normal wurden, ihre Leuchtkraft verloren und sich wieder dem restlichen Boden anpassten. Spaßeshalber vollführte ich einen kleinen Tanz -das hieß, ich watschelte, hüpfte und trippelte herum- und sah begeistert zu, wie meine Route wenigstens für einen kurzen Augenblick sichtbar festgehalten wurde. Die Lichter verblassten allmählich, als ich mich wieder besann und verstohlen zu meinen Familienmitgliedern guckte und tatsächlich, wie ich es mir gedacht hatte, war auf allen Gesichtern ein breites Grinsen, wegen meines geradezu kindischen Verhaltens, zu sehen. Doch plötzlich fing mein Onkel damit an, wild auf den Boden umherzustapfen und danach sein leuchtendes Kunstwerk zu betrachten, welches leider nur alzu kurz währte. Lachend über so viel Verspieltheit gingen meine Großeltern schlendernd weiter, während meine Mutter auch ihr Glück versuchte. Hoffentlich beobachteten uns keine Engel, sie würden uns für verrückt halten.

Angel AcademyWhere stories live. Discover now