Alltägliche Abenteuer

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Vor langer, langer Zeit im magischen Land von Alundria lebten einst zwei Brüder, die Licht und Harmonie in das ganze Land brachten. Der Ältere lies mit seinen magischen Kräften jeden Morgen die Sonne aufgehen, während der Jüngere jeden Abend den Mond beschwor. Zusammen hielten sie das Gleichgewicht über viele Jahre aufrecht. Eines Tages jedoch wurde der jüngere Bruder eifersüchtig. All die Kinder spielten und lachten am Tag, den sein Bruder geschaffen hat und seine wunderschönen Nächte verschliefen sie einfach. Plötzlich weigerte er sich eines Nachts den Mond untergehen zu lassen. Der Ältere wollte mit ihm reden, doch die Dunkelheit hat bereits sein reines Herz zerfressen. Erfüllt mit Neid und Eifersucht, hat sich der jüngere Bruder in ein Wesen der Finsternis verwandelt. Nur ungern griff der Ältere zu dieser äußerst mächtigen Waffe, doch er hatte keine andere Wahl. Mit der Hilfe eines Horns von einem Einhorn, schaffte es der Ältere seinen Bruder zu besiegen und verbannte ihn für alle Zeit auf dem Mond. Das Gleichgewicht wurde wieder hergestellt. Seitdem herrscht der Ältere über beides. Sonne und Mond.

Aufgeregt reißen die kleinen Zuhörer ihre Fäuste nach oben. „Wie ist es mit dem jüngeren Bruder dann weitergegangen?" Sunny lächelt, bevor er ein Lesezeichen einlegt und das Buch zuklappt. „Das werden wir morgen im nächsten Kapitel erfahren", antwortet er. Enttäuscht lassen die Kinder den Kopf hängen. „Aber ich will nicht bis morgen warten", mosert ein fünfjähriges Mädchen. Die kleine Alice ist ein bisschen erkältet, weshalb ihr immerzu die Nase läuft. „Ich würde euch gerne noch weiter vorlesen, doch unsere Zeit ist bald um. Eure Papas und Mamas holen euch in einer halben Stunde ab." Der immerzu gut gelaunte Tagespfleger mit dem lachenden Sonnengesicht nimmt ein Taschentuch zur Hand. „Du musst dich schon ein bisschen mädchenhafter benehmen, Alice. Eine süße Maus wie du sollte nichts im Gesicht haben." Sunny hält ihr das Taschentuch an die Nase. „Fest schnäuzen."

Das kleine Mädchen tut was man ihr sagt. „Was ist mädchenhaft, Sunny?"
„Mädchenhaft ist wie...wie...so wie Christa." Der fröhliche Android mit der menschlichen Seele nimmt ein anderes Buch und schlägt es auf. Er wird von Kindern umringt, während er sich Alice auf den Schoß setzt. „Christa ist ein sehr liebes Mädchen. Sie sorgt sich um andere und ist steht's hilfsbereit und freundlich. Außerdem achtet sie auf ein gepflegtes Aussehen und gute Manieren. Das ist mädchenhaft. Du magst sie doch sicher auch, oder?" Alice grinst breit und präsentiert dabei ihre Zahnlücken. Erst vor kurzen hat sie in der Kita einen Milchzahn verloren und nach ihrem Mittagsschläfchen ein Geldstück unter ihrem Kopfkissen gefunden. „Jaaa, ich mag Christa auch! Ich will genau wie sie sein." Sunny liebt Kinder und betreut sie jeden Tag. Manche kommen einmalig und manche kommen regelmäßig. Während gestresste Eltern sich an der Bar des riesigen Einkaufszentrums mit einem Cocktail erfrischen oder eine aufregende Runde Golf spielen, können sie ihren Nachwuchs bedenkenlos in die erfahrenen Hände von Sunrise geben.

Dabei sind auch die Angebote sehr unterschiedlich. Für die Kindertagesstätte kann man entweder einen Tagespass, einen Wochenpass, einen Monatspass oder einen Jahrespass erwerben. Gerade am Anfang war man sehr skeptisch, ob man seinen Sprössling wirklich einer künstlichen Intelligenz anvertrauen kann. Doch inzwischen sind diese Zweifel bei vielen Eltern verflogen. Sunny liebt Kinder und die Kinder lieben Sunny. Er ist mehr als nur eine Maschine und besitzt wahrscheinlich mehr Herz und Verstand als mancher Mensch. Einige Familien gehen sogar so weit und bevorzugen diese Art der Kinderbetreuung. Durch eine bunte Rutsche kommt man in die Kita, wo man zuerst in einem bunten Bällebad landet. Sunny ist wirklich gegen jedes launische oder bockige Kind gewappnet. Das bunte Kinderparadies ist sehr groß und bietet für alle etwas passendes. Hyperaktive Kinder können sich in den Röhren und auf den Klettergerüsten austoben. Die kreativen Köpfe können in der Bastelecke mit Glitzerkleber und lustigen Wackelaugen bunte Fantasietiere erschaffen und die Neugierigen können tapfer einen kindgerechten Abenteuerpfad erkunden. Doch egal welcher Kategorie man angehört, alle haben etwas gemeinsam: Sie lieben Sunny's Vorlesestunden und das Puppentheater. „Versprichst du morgen wieder vorzulesen?"
„Natürlich, ich verspreche es." Alice umarmt den Pfleger mit dem netten Sonnengesicht, bevor sie von ihrer frisch eingetroffenen Mutter gerufen wird.

In den nächsten paar Minuten werden immer mehr Kinder abgeholt. Sie alle verabschieden sich von Mister Sonne und freuen sich auf den nächsten Tag. Sunny winkt jedem Kind einzeln hinterher, bis er schließlich alleine in der Kita ist. Er seufzt einmal schwer und schaut auf die Uhr. Bald werden die Lichter abgeschaltet. Das ist der Moment, den er täglich am meisten fürchtet. Da wo Licht ist, ist auch Schatten. Nachts, wenn sich das Böse zeigt und er gnadenlos den Verstand verliert. Umso glücklicher ist er wenn am nächsten Morgen wieder die Lichter angehen und 'Er' wieder verschwindet. In wenigen Momenten ist es wieder soweit. Sunny dribbelt aufgeregt auf der Stelle, als das erste Kind von der Rutsche aus ins Bällebad plumpst. „Sunny!" Der vierjährige Junge rennt auf seinen Tagespfleger zu. „Hallo, kleiner Freund! Du bist heute aber voller Energie." Der grinsende Sonnenmann nimmt den Kleinen hoch und wirbelt ihn spielerisch herum. Sunny hält an seinen täglichen Ritualen fest. Anhand einer Tafel kann jedes Kind entscheiden, ob es eine Umarmung, ein High Five oder herumgewirbelt werden will. Langsam wird es in der Kita voll, weshalb der Animatronic sehr aufmerksam sein muss. Hin und wieder kommt es nämlich vor, dass Kinder auch einmal streiten. Dann müssen sie zur Strafe eine Weile in die Auszeit-Ecke oder werden im schlimmsten Fall von der Kindertagesstätte ausgeschlossen.

Doch heute sind alle ruhig, denn sie wollen unbedingt hören, wie es mit der Geschichte weitergeht. Schließlich gibt sich Sunny geschlagen, weshalb er das Buch zur Hand nimmt und den kleinen Zuhörern das nächste Kapitel vorliest. Alle sind total überrascht und hätten mit dieser Wendung niemals gerechnet. Sunny wird mit lauten Kinderlachen belohnt. Er lächelt sehr breit und achtet darauf, dass sich niemand verletzt. Plötzlich zuckt er einmal zusammen und hält sich den Kopf. „Uhh..." Der sonst so aufgedrehte und anhängliche Sunny ist auf einmal sehr still. Etwas scheint ihn gerade zu quälen.

„Was für eine rührende Geschichte. Soll das etwa eine Anspielung auf mich sein?"
Sunny versucht die innere Stimme zu ignorieren.
„Du kannst mich nicht ewig unterdrücken. Eines Tages werden sie alle sehen, wer du wirklich bist."
Eines der Mädchen hat den Kopf schief gelegt. „Mister Sonne?" Sie zieht ihm nochmals am Ärmel. „Äh...?" Sunny blinzelt und kehrt in die Realität zurück. „Hallo, Freundin! Brauchst du etwas?" Er setzt sein gewohntes Lächeln wieder auf.

Die Kleine verzieht das Gesicht und fängt an zu weinen. „Ich hab mich eingenässt...", weint sie. „Awww...", macht es Sunny und tröstet sie. „Das ist doch nicht schlimm! Lass uns zusammen in das Badezimmer gehen und dann beseitigen wir den kleinen Unfall." Gesagt – Getan. Mit einem trockenen Höschen kann die Kleine wieder lachen und spielen. Da kommt dem Sonnengesicht eine großartige Idee – er lädt die Kinder zu einem Puppentheater ein. Freudig setzen sie sich in einem Halbkreis auf und schauen dem Stück gespannt zu. „Dummdidummdidumm, ich bin das kleine Rotgänschen. Ich laufe nichtsahnend durch den Wald, als plötzlich..." Eine zweite Handpuppe kommt dazu. „Hallo!"
„Wer bist du denn?"
„Ich bin das große, böse Schwein aus dem Wald. Ich hab die Leckereien in deinem Körbchen gerochen. He, darf ich mal reinsehen?" Die Kinder fangen an zu lachen. „Du darfst dich nicht so herumschubsen lassen, Rotgänschen", sagt ein Junge. „Genau! Das sind meine Leckereien, großes, böses Schwein. Wenn du alles weg futterst, bist du bald so rund wie ein Wasserballon."

Erneut wird Sunny mit Kinderlachen belohnt. Er denkt sich immer wieder kleine, neue Theaterstücke aus und seine kleinen Zuschauer lieben es. Das Stück endet damit, dass das Rotgänschen vor dem Schwein wegläuft und alle Leckereien selbst aufisst. Müde geworden will er gerade für die Kleinen den Mittagsschlaf vorbereiten, als er plötzlich eine glockenhelle und freundliche Stimme hören kann. „Oh, Sunny...das ist ein wunderschönes Stück gewesen." Der sonst so freundliche und kinderliebe Animatronic kann seinen Augen nicht trauen. Er streift sich die Puppen ab und richtet sich auf. „Was denn, erinnerst du dich nicht mehr an mich?" Langsam kommt er näher. „...Serrin...?"
„Du scheinst mich ja doch nicht vergessen zu haben. Komm her und drück mich." Sunny kann ein warmes Gefühl in seiner Bauchgegend spüren. Auch wenn er zum größten Teil aus Metall besteht, hat er immer noch ein menschliches Herz und eine menschliche Seele. „Serrin, ich glaube es nicht, wie groß du geworden bist!" Er nimmt sie herzlich in den Arm und bemerkt das breite Grinsen mancher Kinder nicht.

Bevor er sich richtig mit ihr unterhalten kann, werden die Kinder erst einmal zum Mittagsschlaf gebettet. Danach kann er in Ruhe mit seiner alten Freundin reden. „Ich hätte im Leben nicht gedacht dich noch einmal zu sehen. Wie lange bleibst du zu Besuch?"

„Ich bin nicht zu Besuch, ich ziehe wieder hierher." Sunny macht ein erstauntes Gesicht. „Wirklich?"
„Ja, wirklich. Ich war damals sehr traurig, als wir weggezogen sind. Immerhin warst du immer mein liebster Tagespfleger gewesen." Serrin ist früher auch oft hier gewesen. Mit ihrem hellblonden, fast weißem Haar und den silberblauen Augen sieht sie sehr auffällig aus. Ihr gesamtes Erscheinungsbild wird noch von ihrer perlmuttfarbenen Haut untermalt. „Ich hab dir so viel zu erzählen, ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll." Das ist der Sunny, den Serrin kennt und liebt. „Es ist schön zu sehen, dass du dich kein bisschen verändert hast." Sie wirft ihm einen glücklichen Blick zu. Der Sonnenmann hält das einfach nicht mehr aus. „Lass uns was spielen, Serrin! Einfach nur aus Spaß, der alten Zeiten willen." Seine kleinen Sprösslinge sind im Ruheraum gut untergebracht. Daher können sie sich den ein oder anderen Blödsinn erlauben. Serrin tippt ihn an und rennt vor ihm weg. „Fang mich doch, Sunny!" Dieser grinst und rennt ihr hinterher. „Na warte, ich krieg dich schon!"

Nach einer Runde fangen spielen tauchen sie im Bällebad herum, klettern auf dem Gerüst umher und kleben Wackelaugen mit Glitzerkleber auf ein Blatt Papier und bemalen es. „Danke, Sunny, das hat so viel Spaß gemacht. Obwohl ich schon einundzwanzig bin kommt dennoch das Kind in mir raus." Er schaut auf die Uhr. „Ja, es war sehr spaßig. Ich muss gleich die Kinder aufwecken."
„Hey, treffen wir uns Samstag doch wieder. Da musst du nicht arbeiten und ich bin wieder hier." Diese Chance wird er sich nicht entgehen lassen. „Na klar, ich würde mich gerne mit dir treffen. Am Samstag sehen wir uns also wieder." Die beiden alten Freunde verabschieden sich mit einer dicken Umarmung. Serrin winkt ihm nach und lacht. Sunny's Sonnenstrahlen spielen gerade verrückt. Sie drehen sich unkontrolliert im Kreis und er sieht ihr solange nach, bis sie außer Sichtweite ist. Seine liebste Freundin nach all der langen Zeit wiederzusehen hat ihm das Herz erwärmt, doch plötzlich zuckt er wieder zusammen. Da ist sie wieder, diese dunkle, furchterregende und rauchige Stimme.

„Soso...du hast mir nie erzählt, dass du eine Freundin hast. Wie süß ihr doch zusammen seid. Hehehe...lade sie doch einmal in der Nacht ein. Dann wird sie sehen, wer du wirklich bist."
Sunny hält sich den Kopf. „Nein...ich werde nicht..." Er kämpft dagegen an. „Nicht...niemals..." Hätte er Haare, würde er sich diese nun ausreißen. Sunny stöhnt einmal leise.
„...Keine Sorge...ich werde mich gut um sie kümmern. Hehehe..."
Er atmet einmal tief durch, dann setzt er sein gewohntes Grinsen wieder auf und geht die Kinder wecken. Danach kann das Spielen weitergehen. Der Sonnen-Animatronic lacht. Er wird nicht aufgeben. Er wird nicht zulassen, dass 'Er' die Kontrolle übernimmt.


Moondrop weiß was du in der Dunkelheit tust (Abgebrochen)Where stories live. Discover now