KAPITEL 19: Ouroboros-Residenz, Connecticut, 12. August 1939

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Alles fließt. Ich finde keine Worte, die dazu in der Lage wären, es besser zu beschreiben. Alles fließt und ich stehe starr. Mein Bruder fließt um mich herum, auf seinen gottgesegneten Pfaden, die ihn sehenden Auges zu einem lebenden Märtyrer schlagen. Jemand, der in der zermürbenden Reibeisen seiner Pflicht zerstoßen wird, bis nichts mehr von ihm übrig ist als einzelne Splitter kaltschnäuziger Rechtschaffenheit.

Es gelingt mir kaum noch, die Tage voneinander zu unterscheiden, denn auch sie fließen in- und durcheinander. Manchmal bilden sich Brücken aus, die momentane, kurzlebige Verbindungen herstellen, zwischen vollkommen unzusammenhängenden Ereignissen, die Tage, manchmal Wochen auseinander liegen. Ich sitze beim Frühstück, Agnes bringt mir Kaffee und im nächsten Augenblick treibe ich in der Dämmerung im Wasser des Tümpels und starre in den Himmel, der an mir vorbeifließt.

Alles fließt. Schon Heraklit hat es gesagt. Sämtliche Lebensphasen im uniformen Firmament unseres Lebens kehren wieder wie in einem ewigen Kreislauf. Nietzsche hat das gesagt. Sie haben beide Recht.

Der Untergang ist jetzt sehr nahe. Ich muss mich ihm alleine entgegenstellen, weil mein Bruder weit, weit fort ist, und mein Vater bereits vorausgegangen ist. Ich möchte nicht, dass es geschieht, aber ich weiß, dass es unausweichlich ist.

Europa zeugt bereits davon, huldigt mein Kommen. Ein Funken, sagt mein Bruder, nur ein Funken muss überspringen, und der Krieg bricht aus. Hebt sein schuppiges, widerwärtiges Haupt und brüllt so laut, dass selbst die phlegmatischen Sterne zurückschrecken.

Ich weiß, dass ich der Funken bin.

Und ich weiß, dass sie der Feuerstein ist, an dem mir zu entstehen befohlen wird. Von dem ich auf dem zeremoniell aufgebahrten Strohhaufen überspringen soll.

Sie ist nun fast jede Nacht da. Steht am Rande meines Bettes und sieht auf mich herunter; spöttisch, abwartend, ungeduldig. Sie ist nicht länger bloß ein unheilvoller Schatten an der Wand, den man mit dem Schließen der Augenlider ausgrenzen kann – sie ist die Kulmination der Warnrufe, über die ich mich hinweggesetzt habe, als die Tage noch länger waren. Jetzt sind meine wachen Stunden kurz und fragil wie Spielsteine, die in einer langen Reihe hintereinanderaufgeschichtet sind.

An einem dieser Tage werde ich fallen, und der Rest meines Lebens wird abrupt beendet sein, wird sich in einer endlosen Vorwärtsbewegung zu einem Meer gefallener Spielsteine wandeln – Tage, die ich nicht mehr leben kann, weil ich nicht mehr Octavian Herodes Vanguard bin, sondern ein Mahnmal.

Wie schon bei meinem Vater wird selbst der Klang meines Namens als Menetekel in die Geschichte eingehen, meine Nachfahren, falls es solche geben soll, werden mich fürchten, werden mich als Weltenzerstörer studieren, wenn sie überhaupt von mir lernen dürfen.

Es ist nicht meine Schuld. Sie haben mich im Stich gelassen. Niemals hätte sie solch eine Macht über mich erlangt, wenn ich nicht einen Großteil meiner Zeit damit verbrächte, mutterseelenallein durch die verworrenen, kahlen Gänge dieses Anwesens zu geistern, ohne Ziel, ohne Zweck.

Aber niemand hat im Zweifel für den Angeklagten entschieden. Niemand hat sich über Jung hinweggesetzt, und mit göttlicher Autorität entschlossen, dass ich zu rehabilitieren sei. Sie haben mir ins Gesicht gesehen und mich den Leviathan geschimpft.

Und so bin ich er geworden.


Seit Neuestem spricht sie auch noch mit mir.

Mein König, nennt sie mich. Mein Lehnsherr, mein Lord. Mein Prinz, mein Weltenvereiner. Mein Bringer des Friedens, mein Bruder des Schicksals. Ich kenne dich, seit du im Zeichen des Schlangenträgers geboren wurdest. Du bist entstanden, um die Welten zu vereinigen, meine, und deine.

Vor Ewigkeiten sind wir auseinandergebrochen, in einem schrecklichen Verrat, der aus der gefallsüchtigen Eifersucht niederer Männer hervorgegangen ist. Doch du bist geschaffen worden, um uns wieder zu vereinen. Und ich bin geschaffen worden, um dir beiseite zu stehen.

Dich zu führen in den Krieg, den du im Namen unserer Welten zu treiben verpflichtet bist, dich zu salben, sobald du dich auf den Thron schwingst, dich zu krönen, sobald deine Aufgabe getan ist. Du gehörst in meine Welt, denn die andere ist nur Schattenspiel. Ein Gefängnis, das dazu erbaut wurde, dich um den Verstand zu bringen.

Ein goldener Käfig, in dem dein Blut sich so mächtig fühlt, dass es vergisst, wie es in einem Akt des Frevels verstoßen wurde. Eine persönliche Hölle, in der dein Blut geknebelt und entmannt wurde, ohne Kontakt zur Heimaterde, die es von seinem göttlichen Befall zu heilen vermag.

Du wirst nicht verrückt, Octavian, sagt sie mir und tupft mir mit einem Tuch über die Augen, das aus flüssigem Mondlicht gesponnen scheint. Du erinnerst dich nur an zu Hause. Und bald wirst du dorthin zurückkehren.

In die Welt, die fließt.

Alles fließt.

In der gemeinsamen Sprache unserer Vorväter heißt das Panta Chorei. Alles fließt.

Die Welt, in der du lebst, die du all die Jahre zu bevölkern geglaubt hast, ist nichts mehr als das Abbild eines Abbilds. Sie ist noch gestaltloser als die Höhle aus Platons Gleichnis.

Die Welt, die du so ernst genommen hast, in der dein Bruder mit spielerischer Leichtigkeit brilliert und betört, während du bloß Tag für Tag weiter davontreibst, die Verbindung verlierst zu demjenigen, das dir nie das bewusstseinslähmende Opium war, das es für deinen Bruder dargestellt hat.

Was würdest du tun, wenn ich dir sagte, dass er mit Strohpuppen verhandelt, sich in diplomatischen Tändeleien mit rauchigen, körperlosen Schatten befindet? Nichts hiervon ist echt, Octavian. Nur du bist wahrhaftig, und nur du hast die Möglichkeit, die Welt nach deinen Wünschen zu formen, nun, da ich dir die Wahrheit eröffnet habe.

Der drohende Krieg ist bloß ein schnöder Spuk, ein Handpuppenspiel. Das einzige, das zählt, ist die Vereinigung unserer Welten.

Ich verrate dir noch etwas, mein König. Etwas, das in die Beschaffenheit deiner starren Welt eingraviert wurde, und von seiner Entstehungssekunde an die wahrste Wahrheit dargestellt hat, dasjenige, das am ehesten an die ineinandergreifenden Muster deiner Heimatwelt heranreicht.

Es ist ein altes lateinisches Palindrom, das bedeutet, dass es in beide Richtungen die gleiche Phrase ergibt. Es fließt um sich selbst, beißt sich selbst in den Schwanz, kehrt wieder, immer und immer und immer wieder.

In girum imus nocte et consumimur igni.

Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt.

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