KAPITEL 5: Yale-Universität, New Haven, 24. August 1997

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Erstaunlicherweise war es Genevieve, die ihm damals zuerst ins Auge gefallen war. Später wurde es immer Charlie sein, die seinen Blick anzog, und seine Aufmerksamkeit derartig mühelos fesselte, als sei er nur zu dem Zweck auf die Welt gesetzt worden, einzelne Augenblicke ihrer vergleichslosen Existenz zu bezeugen: Doch das allererste Mal, dass er sie beide sah, war es Gen, die seine Aufmerksamkeit erregte.

Das neue Semester steckte erst in den Kinderschuhen und Nicholas war es bereits gelungen, meilenweit hinter dem Stoff zurückzubleiben, den ihnen die Dozenten ohne Rücksichtnahme auf außerschulische Aktivitäten aufhalsten.

Er war nach Harkness Hall gekommen, um einem weniger gut situierten Kommilitonen siebzig Dollar für ein geschriebenes Essay vorbeizubringen und die kostbare Arbeit von ihm abzuholen.

Der Tag äußerte sich als sonniger, warmer Zeitgenosse – es war der Montag nach einem durchzechten Wochenende – und seine stechenden Kopfschmerzen waren trotz Sonnenbrille aufdringlich genug, um ihn erleichtert in die kühlen Dormitorien abzutauchen zu lassen, als er den kurzen, aber ärgerlichen Fußmarsch vom Parkplatz zum Studentenheim hinter sich gebracht hatte.

In der Tür kam ihm eine Gruppe gemächlich spazierender Studentinnen in Shorts, Tops und Sonnenbrillen entgegen, die mit zusammengerollten Picknickdecken unter dem Arm ausgestattet waren – vermutlich auf unmittelbaren Weg zur großen Liegewiese auf dem Campus, an der er soeben vorbeigekommen war.

»Schönen Nachmittag, Ladies«, sagte er trotz hämmernder Kopfschmerzen mit seinem bestechendsten Grinsen und schickte sich an, ihnen die Tür aufzuhalten.

Es schmeichelte seinem Ego gehörig, dass sich der Großteil des Pulks kichernd anstieß und seinen Gruß in gurrender Bereitschaft erwiderte. Zwei von ihnen gingen sogar so weit, sich heftig flüsternd immer wieder zu ihm umzuwenden, als hätten sie der kurzen Interaktion noch etwas hinzuzufügen, bis sie um die Ecke gebogen waren.

Die Eingangshalle des Dormitoriums umfing ihn mit einladender, stickiger Kühle, die von den schweren Mauern abgesondert, und dank der winzigen Fenster größtenteils erhalten wurde. Eine für Studentenheime recht typische Trostlosigkeit hing auch diesen Hallen an; an jeder freien Fläche klebten Flugblätter, Personenanzeigen und Poster für uninteressante Veranstaltungen über thematische Sackgassen wie Mülltrennung, Sicherheit auf dem Campus und die Vorzüge der Neuindustrialisierung von Detroit.

Die Türen zu den meisten Schlafräumen standen offen und in den Türrahmen lehnten pickelige Wichtigtuer in Segelschuhen und Cordhosen, die auf dem Campus inzwischen so häufig waren, dass sie wohl zur inoffiziellen Schuluniform gehören mussten. Sie unterhielten sich mit leiser, inspirierter Stimme über ihre eigene Bedeutung und die Bereicherung, die ihre Geistesgröße für Yale darstellen würde.

Nicholas durchschritt die Korridore, ohne ihnen auch nur einen Blick zu erübrigen. In seinem Kopf hämmerte ein Klöppel vehement gegen den Messingschlag seines Gehirnknochens und er war sich sicher, dass jeder den nachhallenden Glockenklang seines überbordenden Wochenendexzesses hören konnte.

Seine dunkle Sonnenbrille tat ihm keinen Gefallen darin, die neugierigen Blicke abzuwehren – doch die Aufmerksamkeit war nur kurzlebig; Nicholas vermutete, dass Montage nicht selten ausgespuckt wirkende Schnösel in die Hallen spülten, die sich mit ein paar Dollar unter der Hand von ihren akademischen Pflichten freikauften, um sich ihrem Kater in Ruhe zu beugen.

Sein Kontakt saß vor seinem Schreibtisch, als Nicholas in seiner Tür erschien und mit dem Fingerknöchel gegen den Türrahmen klopfte, um auf sich aufmerksam zu machen.

Er war in Nicholas' Jahrgang, ein Sophomore, genau wie er – aber Nicholas konnte nicht behaupten, bislang besonders viel mit ihm gesprochen zu haben. Er hatte von dessen Essaybusiness über Nathan Sterling erfahren, der ihm seine Zimmernummer und Adresse gegeben hatte: Freitag hatten sie die Rahmenbedingungen für das Essay vereinbart, dann war Nicholas seines Weges gezogen und hatte ihn im Versprechen auf siebzig Dollar (Anzahlung von zwanzig) walten lassen.

Wir irren des NachtsWhere stories live. Discover now