KAPITEL 11: Vanguard Holding HQ, New York, 21. April 2019

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Als der Vorstand das letzte Mal eine Krisensitzung einberufen hatte, war Galatea erst acht Jahre alt gewesen und hatte als vernachlässigte Tochter eines Rabenvaters in einem vergessenen Prunkschloss ihr Dasein gefristet.

Damals hatte sie nichts geahnt von den polierten Glastischen in den Versammlungsräumen, durch dessen Tischflächen einem die Körpersprache seines Gegenübers stets auf dem Silberteller präsentiert wurde, von den rundherum ernsten Mienen, dem Rascheln von bügelfreien Hemden und dem nervösen Klicken eines Kugelschreibers, während jemand sich in die Stille hinein räusperte.

Damals, im Jahr 2005, als Atticus Ryberg gerade ein niederschmetterndes Testergebnis zu verschulden gehabt hatte, war ein Großteil der Besetzung, die heute anwesend war, noch nicht einmal in den Vanguard'schen Hallen herum flaniert, geschweige denn im obersten Stockwerk hinter verschlossenen Türen in eine uralte Magie eingeweiht worden, die auf diese Art keinerlei Existenzanspruch besaß.

Galatea sah dies als Beweis der bedauernswerten Kurzlebigkeit ihres administrativen Arms. Bis zum Ende seiner irdischen Existenz, falls es nicht in den nächsten paar Jahren zu einer unausweichlichen Katastrophe kommen würde, würde Atticus dutzende verschiedene Belegungen und Konstellationen überlebt haben.

Im Vergleich zu seiner Magie, die allzeit unverändert ungebrochen durch seine Adern fließen würde, zu seiner Macht, die weder durch Alter noch Krankheit jemals einen Abbruch erführe, würde das Board in viskos blubbernden Wirbeln an seinem Leben vorbeifließen, die Verästelungen seines Wesens mit einer schützenden Isolierschicht zu ummanteln, um der Explosivität seines  Charakters entgegenzuwirken. Sie würden versuchen, sich ihm anzupassen, sich ihm anzugleichen, ihn niemals zu erzürnen, aber dennoch die Zügel nicht aus der Hand zu geben.

Es brauchte Vierzehn der brillantesten Köpfe ihrer Zeit, um einem von ihnen auch nur im Ansatz gerecht zu werden. Vierzehn Koryphäen in ständig wechselnder Besetzung, die sich um einen Kraftpol gruppierten, der sich jederzeit gegen sie wenden könnte, wie Präzedenzfälle es bereits unter Beweis gestellt hatten.

Galatea blickte sich im Versammlungsraum um. Es war kurz nach neun Uhr morgens und die Frühlingssonne schien schräg durch die getönten Fensterscheiben auf die fast künstlerische Aufmachung ihres ungeordneten Aufruhrs.

Professor Langenfeld und Dr. Anderson versuchten sich über Philip Carver alarmistische Äußerungen zu Börsencrashs und Regression des Bruttoinlandsprodukts Gehör zu verschaffen, während Cyr Tennyson am Fenster lehnte und offensichtlich stumm mit Arianna kommunizierte, die seinen Blick erwiderte und ihre Augen tief in ihren Kopf zurückrollte.

Wie um das Crescendo ihrer Uneinigkeit zu untermalen, flog die Tür zum Versammlungsraum auf, und Edythe Ryberg trat mit großen Schritten inmitten des Gezeters und Geschreis, das nach wie vor Hof hielt. Sie hatte ihren azurblauen Blazer über ihre Schulter geworfen und ihre dunklen Augen wurden von einer orange getönten, medizinischen Sonnenbrille verborgen, die ihre empfindlichen Iriden schützen sollten, aber in Galateas Augen nichts anderes war als ein Vorwand, ihren Verhandlungspartnern nicht in die Augen sehen zu müssen.

Sie war eine beeindruckend hochgewachsene Frau und hatte es sich selbst über die Jahre nicht abgewohnt, ihre Körpergröße mit Stiefeln mit Absätzen nur noch weiter zu betonen.

Edythe zog sich die Sonnenbrille mit einer ausladenden Geste von der Nase und rief in ihrer tiefen, ehrfurchtgebietenden Stimme: »Seid still, alle von euch!«

Galatea lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorne und bemerkte mit beinahe selbstzufriedenem Wohlwollen, dass auf den Ordnungsruf ihrer säumigen Tante sofort sämtliche Diskussionen und Unkenrufe versiegt waren. Von einer Sekunde auf die andere wandten sich alle in Richtung Tür, die Edythe mit einer beiläufigen Handbewegung schloss, ehe sie langsam, aber mit festem Schritt entlang des kreisrunden Versammlungstisches zu den zwei Wissenschaftlern aufschloss, die ob ihres Eintreffens mehr als erleichtert wirkten.

Wir irren des NachtsWhere stories live. Discover now