KAPITEL 6: Ouroborus-Residenz, Connecticut, 20. April 2019

165 21 82
                                    

Atticus träumte schlecht. Die Nächte waren zu einer unbarmherzigen Verlängerung seiner Tage geworden, ineinander verlaufenden Stunden, die sich gleichförmig durch die schiere Endlosigkeit seiner Existenz zogen, wie ein plätscherndes Flüsschen unter der baufälligen Brücke seiner Selbstkontrolle.

Es gab keine Aufregung in dieser Stetigkeit, keine Abwechslungen. Nur er, die erstickende Dunkelheit der Nacht und der lähmende Zwischenzustand von Schlaf und Wachsein.

Eine Weile war er zwischen Traumbildern gewechselt wie ein Fernseher mit Wackelkontakt, mit nichts außer Rauschen zwischen den einzelnen Szenen. Wald. Das Haus. Wieder Wald. Kalifornien. Die Festung.

Keine Personen, keine Gesprächsfetzen, keine Handlung. Nur Szenerien, Standbilder von Orten, an denen er gewesen war, an denen er gelitten hatte, und Orte, die ihm nichts sagten. Nicht, dass sie nicht vertraut gewesen wären; alleine die Festung hatte er in den vergangenen Monaten beinahe jede Nacht gesehen.

Sein Groll gegen das langweilige Fernsehprogramm stieg mit jeder verstreichenden Minute: Wieso war er in diesem paralysierenden Zustand gefangen, und warum konnte die Unterhaltung nicht zumindest ein bisschen abwechslungsreicher sein?

Zudem wurde er das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde. Dass sich fremde Augen mit ihm in diesem Raum befanden, die ihn musterten, während er sich auf seiner Matratze hin und her warf. Dieses Gefühl hatte er in diesem verdammten Haus nie vollständig abschütteln können – vermutlich waren es die urteilenden Blicke seiner zahlreichen Ahnen, die ihm, das irdische Leben kaum verlassen und den Fluch vergessen, in aller Wahrscheinlichkeit aus dem Jenseits ihre Vorwürfe machten.

»Zeig mir was anderes, verdammt noch mal«, knurrte er ungehalten.

Er zuckte zusammen, als das Bild vor seinen Augen in tausend Splitter zerbarst wie die billigen, durch die technologischen Möglichkeiten ihrer Zeit begrenzten Übergangseffekte in David Bowies Labyrinth. Sogar die Szenerie schien sich seinen Erwartungen anzupassen: Vor seinem inneren Auge erschien ein Ballsaal, nein, ein Thronsaal.

Allerdings war dieser fast vollkommen verlassen, die hohen, kalten Mauern des Thronsaals erstreckten sich horizontal bis in die Unendlichkeit und anstelle des Synthesizer-Motivs von As The World Falls Down meinte Atticus dumpfen, schmetternden Klänge von Edith Piafs Non, Je Ne Regrette Rien zu vernehmen. Schwach allerdings nur, undeutlich, wie durch tausend Schichten Seide und Wasser.

Er war offensichtlich gerade rechtzeitig gekommen, um einer Krönung beizuwohnen: Und an dieser Stelle begann der Traum, Elemente des Fantastischen zu inkorporieren.

Die Gestalt auf dem zentral errichteten Thron, der schwerfällig und aus Stein errichtet war; so positioniert, dass ein schmaler Lichtkegel durch ein Rundfenster in der unerreichbaren Decke unmittelbar darauf fallen konnte, war er.

Nein. Nicht er, denn als er vorsichtig nähertrat, löste das Trugbild sich auf. Er war jemand, der ihm allerdings nicht unähnlich sah – zumindest auf den ersten Blick. Halblanges, leicht lockiges Haar, das im Nacken irgendwie zusammenfiel, eine markante Nase, die etwas Vogelartiges hatte und schimmernde, angespannt aufeinander gepresste Lippen.

Atticus blieb erstarrt auf der Stelle stehen, doch der blasse Prinz auf dem Thron, der im Begriff war, gekrönt zu werden, nahm keine Notiz von ihm. Seine Augen waren geschlossen, wie in tiefer Trance, und Atticus konnte nicht sagen, ob er ihn wahrnahm oder ob Atticus lediglich als unbeteiligter Beobachter über die Szenerie wachte.

Hände schienen aus dem Nichts nach dem Prinzen auf dem Thron zu greifen, seine Wangen, seine Haare zu liebkosen, als wollten sie ihm ihre tiefste Ehrerbietung zustehen. Er hingegen schien vollkommen in sich selbst gefangen zu sein, seine Außenwelt vollständig ausgesperrt zu haben.

Wir irren des NachtsKde žijí příběhy. Začni objevovat