KAPITEL 12: Ouroborus-Residenz, Meriden, Connecticut, 22. April 2019

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Ein peitschender Schuss schallte über die ebene, begrünte Rasenfläche vor dem Tümpel, der sich an den Waldrand anschmiegte. Ein gesamter Floss Enten, der nichtsahnend am Teichrand im Schilf getrieben hatte, stob erschreckt aus dem grünen Dickicht auf und erhob sich in einer ungeordneten Formation in den grauen Himmel empor.

Atticus vernahm ihr panisches Schnattern, das nach einem weiteren Warnschuss zu einem todesängstlichen Crescendo anschwoll, ohne jegliche Freude.

»Sag mal, spinnst du

Er verdrehte die Augen in den Kopf hinein, ließ das Gewehr sinken und drehte sich um.

Ira Knight kam über die grasbewachsene Ebene auf ihn zugeeilt, ihr schwarzes Haar umwölkte ihr Haupt wie ein Nachbeben ihres Zorns. Mit einer nüchternen Distanziertheit stellte er fest, dass sie genauso aussah, wie er sich die Rachegöttin Nemesis immer vorgestellt hatte.

»Oh, hallo«, sagte er und lud das Gewehr neu. »Willst du auch mal?«

»Nein«, keuchte sie und wirkte von seiner arglosen Frage fast empörter als vom mörderischen Naturell seiner Freizeitbeschäftigung. »Lass den Scheiß. Du kannst doch nicht einfach aus Jux und Tollerei auf diese völlig unschuldigen Enten schießen.«

»Das ist eine vollkommen legitime amerikanische Freizeitbeschäftigung«, gab er schulterzuckend zurück. »Du solltest dich echt echt mal in unseren umfassenden Sittenkatalog einlesen.«

»Du irrst dich«, sagte sie mit einem feinen, fast gefährlichen Lächeln. »Das ist wieder einmal typisch amerikanischer Kulturimperialismus anzunehmen, dass ihr diejenigen seid, die hirnloses Schießen auf Wild erfunden habt.«

Er ignorierte sie und wandte sich wieder in Richtung der Enten, die inzwischen so tief über die Baumwipfel des kleinen Hains abgetaucht waren, dass er sie mit keinem Projektil der Welt noch zu treffen vermochte.

Allerdings war er sich ihrer plötzlichen Nähe mehr als bewusst, und als er sich wieder zu ihr umwandte, bemerkte er, dass sie mit verschränkten Armen ein paar Zoll hinter ihm stand und ihn überdrüssig musterte.

»Du bist ein verdammt schlechter Schütze«, sagte sie dann.

»Ich schieße doch nicht auf die Enten, um sie zu erlegen«, gab er angewidert zurück. »Weißt du, wie widerlich es ist, später den Schrot aus dem Fleisch picken zu müssen? Wie bei einer Wassermelone, nur mit höchst reeller Gefahr auf einen zersplitternden Zahn.«

»Was tust du dann mit einem Gewehr um sechs Uhr morgens vor dem Ententümpel?«

Atticus grinste in sich hinein. »Ich beschwöre einen Geist.«

Er machte ein paar Schritte auf den Uferrand zu, wo sich eine glitschige Morastschicht abgelagert hatte. Der Tümpel war gerade so groß, dass der Wind, der vom Süden über die Hügel von Meriden aufzog, die Oberfläche kräuselte.

Noch ehe Ira eine verwirrte Nachfrage äußern konnte, ertönte vom Haus her das Geräusch einer wütend zuknallenden Tür und Atticus sah, wie Ira überrascht die Augen weitete, als sie Nicholas über die Rasenfläche auf sie zukommen sah. Er trug einen frischen Morgenmantel aus königsblauen Satin und seine Füße steckten in Seidenpantoffeln, die er mit jedem Schritt, den er weiter auf sie zumachte, stärker in Mitleidenschaft gezogen wurden.

»Hey, Bengel!«, rief Nicholas und seine Stimme wurde schwach und zerfasert zu ihnen herüber getragen. »Hör sofort auf damit!«

Atticus hielt Blickkontakt zu seinem Onkel, während er das Gewehr neu belud und eine weitere Salve in den bewölkten Morgenhimmel abfeuerte.

Dann wandte er sich Ira mit einem selbstzufriedenen Grinsen zu. »Gern geschehen.«

»Ich hätte Nicholas nicht für einen Tierschützer gehalten«, gab Ira milde beeindruckt zurück. »Vor allem hätte ich nicht erwartet, dass er sich dafür aus seinem trunkenen Schlummer wälzt.«

Wir irren des NachtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt