KAPITEL 8: Ouroborus-Residenz, Connecticut, 20. April 2019

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Atticus hatte den gesamten Tag an unproduktive Nichtigkeiten verschwendet und fühlte sich nun, als die Nacht über das Anwesen hereinbrach, hundeelend. Nicht, dass er üblicherweise Fleiß an den Tag gelegt hätte, aber Begegnungen mit seiner Cousine neigten dazu, diesen Effekt der Selbstunzufriedenheit nur zu verstärken.

Nachdem Galatea und Ira nach New York aufgebrochen waren, hatte er die Tagebücher in einen alten Schuhkarton gestapelt und unter seinem Bett verstaut. Zwischen Galatea und ihm hatte eine stumme Einigkeit darüber bestanden, das Auftauchen dieser Chroniken vorläufig unter Verschluss zu halten. Das bedeutete, sie würde weder ihrem geheiligten Vorstand davon erzählen, noch würden sie zulassen, dass sie dem phlegmatischen Nicholas in die Hände fielen.

Atticus bezweifelte zwar, dass Nicholas die Tagebücher als das erkennen würde, das sie waren, aber er wollte nicht riskieren, dass er die Bücher in Gewahrsam nahm und nicht wieder herausrückte.

Einen Psychopathen in der unmittelbaren Verwandtschaft zu haben, wäre für die meisten Menschen geradezu unerträglich; für jemanden wie Atticus hingegen, einen Vanguard, der aus dem Stegreif mindestens sieben solcher Exemplare herunterbeten konnte, waren sie lediglich ein Exempel, dem nicht nachgeeifert werden durfte.

Nachdem er die Bücher verstaut hatte, war er wieder ins Bett gefallen. Der Albtraum steckte ihm nach wie vor in den Knochen, und tagsüber zu schlafen führte zwar dazu, dass er sich beim Aufwachen elendig fühlte, allerdings verschonten ihn seine Träume dafür. Er hatte bis um ein Uhr unruhig geschlafen und war gegen zwei duschen gegangen.

Daraufhin hatte er begonnen, sein Zimmer aufzuräumen und in den Wäscheschränken im Erdgeschoss nach einem neuen Bettlaken zu suchen, mit denen er sein Bett beziehen konnte. Aber auch dieser Anflug der Gewissenhaftigkeit war schneller versandet, als er die Wäsche aus der Hand legen konnte und bis drei Uhr saß er auf dem Boden vor seinem Bett und klebte die Tasse, die durch Iras Zorn zu Bruch gegangen war.

Als er fertig war, realisierte er, dass er die Tasse ohnehin immer gehasst hatte und warf sie in seinen Mülleimer. Dieser war bereits seit mehreren Wochen nicht mehr geleert worden und die Tasse rutschte von dem Haufen an zusammengeknülltem Papier und zerdrücken Getränkedosen wieder auf den Boden, wobei der Henkel wieder abbrach.

Inzwischen verspürte er unbändigen Hunger, allerdings hörte er Nicholas unten in der Küche rumoren und er würde ihre nie explizit ausgesprochene Abmachung nicht verraten, indem er ihn in seinem kleinen Frieden der Isolation störte.

Er hatte den Schuhkarton so tief unter sein Bett geschoben, dass er dessen weiße Vorderansicht nur dann erkennen konnte, wenn er sich unmittelbar vor seinem Bett auf den Bauch legte. Alle paar Minuten unterbrach er die beiläufige Tätigkeit, die ihn nicht recht zu fesseln vermochte, und robbte unter sein Bett, um den Karton anzustarren.

Irgendwann hatte er genug von seiner eigenen Unentschlossenheit und zog seine Decke vom Bett, um sie vor den Schuhkarton zu drapierten, damit seine Blicke nicht mehr davon angezogen werden würden.

Stattdessen entschied er, die Ahnengalerie aufzusuchen. Er war bis gestern seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen und auch, wenn Octavians Porträt nicht mehr dort hing, sonderte sie dennoch genügend Verdammnis ab, an der er sich laben konnte.

Erst auf halben Weg fiel ihm der unheimliche Spuk von gestern Nacht wieder ein. Das Porträt, das einfach nach hundert Jahren unbeeindruckter Stabilität von der Wand gekracht war, gerade in dem Augenblick, in dem mit Ira eine Fremde in die Galerie getreten war.

»Eigenbrötlerische, feindselige Drecksfamilie«, knurrte Atticus vor sich hin. Er beschwor ein kleines Licht herauf, das ein paar Meter vor ihm durch den Gang hüpfte und ihm den Weg erhellte, da alle Fenster entweder verhangen oder mit Fensterläden verdunkelt waren. Er war nicht gut in Beschwörungen, nicht so gut wie Ira es offensichtlich war: Seine Fähigkeiten lagen im Bereich der Selbstverwandlung und Steigerung seiner körperlichen Belastbarkeit. Von einem Hausdach zu springen war ihm ein Leichtes, aber seine kleine Lichtkugel flackerte blässlich vor sich hin.

Wir irren des NachtsWhere stories live. Discover now