KAPITEL 2: Columbia-Universität, New York, 19. April 2019

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In einer Stadt zu leben, in der einem der eigene Nachname regelmäßig in glatten, eleganten Lettern von prächtigen Gebäudefassaden entgegensprang, würde immer einen Hauch des Surrealen beibehalten.

Dabei war Galatea Vanguard im lebensfeindlichen Machtbereich ihrer eigenen Familie großgeworden und hätte eigentlich genügend Zeit gehabt, ihren Platz vorbehaltlos zu akzeptieren. Genügend Zeit, sich an ihre essenzielle Wichtigkeit zu gewöhnen und sich stolz in dieser zu kleiden.

Unglücklicherweise lag ihr nichts ferner, als den Platz, der ihr durch Blut und Sippe zustand, kompromisslos auszufüllen.

Besonders offensichtlich äußerte sich ihr geradezu pathologischer Unwillen, jemanden zur Last fallen, in dem Umstand, dass sie jegliche finanzielle Unterstützung ihrer Tante ausgeschlagen hatte und wie jeder andere Student an der Columbia Universität in den heruntergekommenen Studentenheimen am Campus hauste.

Als Edythe sie vor inzwischen fast zwei Jahren in ihrem winzigen, baufälligen Zimmer in Hartley Hall abgesetzt hatte, war Galatea ihr bodenloses, schlecht verhohlenes Entsetzen besonders in Erinnerung geblieben. Ihre Tante war bei Gott nicht zimperlich, aber die Flecken auf der Tapete und der zerschlissene Teppichboden hatten sie an den Rand ihres guten Willens getrieben.

»Es ist noch nicht zu spät«, hatte sie Galatea ins Ohr gezischt, damit ihre neue Zimmergenossin, die gerade die Wimpel ihres High-School-Leichtathletikvereins über ihrem Bett befestigte, sie nicht hören konnte. »Ich besorg' dir ein Appartement, auch in diesem Block, wenn dir die Nähe zur Universität wichtig ist, in dem keine Ratten aus den Wänden kriechen, wenn man ihnen nur den Rücken zuwendet.«

Galatea war vor Verlegenheit über die unangebrachte Überheblichkeit ihrer Tante puterrot angelaufen und hatte vehement abgelehnt. Die Wahrheit war, dass sie ihr gesamtes Leben in glänzenden, polierten Hallen verbracht hatte und der Anblick des vor Schmutz starrenden Boden das herrlichste war, das sie jemals gesehen hatte.

Und es war auch nicht so, als ob der Einfluss ihrer Familie jemals aus ihrem Leben verschwände. Ihre feierliche Initiation lag erst eine Woche in der Vergangenheit und es war nur eine Frage der Zeit, bis Tennyson sie das erste Mal anrufen würde.

»Okay, gut«, hatte Edythe frustriert geäußert und ihre Hände in scherzhafter Kapitulation erhoben. »Wenn du es länger als ein Monat hier aushältst, schick ich dir einen Kaktus.«

Inzwischen stand der Kaktus auf ihrem Fensterbrett und oblag Galateas liebevoller Pflege. Sie war gut darin, sich um andere zu kümmern – ihre Zimmernachbarin, Minerva Callan, die genau wie sie Rechtswissenschaften studierte, meinte oft scherzhaft, dass Galatea die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen erkannte, bevor sie sich selbst derer bewusst waren.

Auf dieses freundlich gemeinte Lob lachte Galatea meist nervös und entgegnete nichts darauf.

Wenn sie sich nicht um ihren Kaktus kümmerte, verbrachte sie ihre Tage in der universitären Bibliothek, lernte Gesetzbäusche auswendig, schrieb Essays und verteilte ihre Taschentücher an schluchzende Erstsemester, die von der schieren Arbeitsbelastung schlicht überfordert waren.

Ein paar Mal im Monat jedoch, jedes Mal, nachdem ihr Handy plötzlich auf dem polierten Holztisch der Bibliothek oder des Vorlesungssaals vibrierte und sie eilig den Raum verlassen musste, verschwand sie für einige Stunden und war bis zum frühen Abend absolut unauffindbar. Dann kehrte sie meist mit Takeout in den Schlafsaal zurück, zog sich in die hinterste Ecke ihres Bettes zurück und vergrub ihre Nase in ihren Lehrbüchern.

Minerva hatte bereits gelernt, sie an solchen Abenden nicht anzusprechen.

Mitten in Vertiefende Einführung ins Wohnrecht schlug Galateas Handy das zweite Mal in dieser Woche Alarm. Der Professor hatte gerade einen Studenten aus der ersten Reihe vorgeführt, der eine triviale Frage gestellt hatte. Galateas Magen hatte sich vor Mitleid und Anteilnahme während der gesamten Marter schmerzhaft verklumpt.

Wir irren des NachtsWhere stories live. Discover now