200

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Es waren ungefähr 200. Zweihundert Menschen, die Jungkook kannte. Die in seiner Umgebung wohnten, die ein ähnliches Schicksaal teilten wie er. Diese 200 waren seine Familie. Er konnte jedem von ihnen vertrauen, faire Geschäfte abschließen und auch mal etwas zum Aufpassen geben. Es war diesen 200 Menschen zu verdanken, dass er lebte, dass er noch immer lebte. Einer davon war Hoseok. 

Jungkook war nach dem Essen gegangen. Er hatte sich mit einem lauten Zungenschnalzen und einem abfälligen Kommentar, dass Hoseok auf sein Anhängsel aufpassen solle, damit es keinen Dreck macht, verabschiedet. 

Taehyung machte das wenig aus. Er genoss einfach die Nacht. Lehnte sich zurück und war sehr erstaunt, als er Hoseok auf sich zukommen sah.

„Wir müssen noch ein Stück laufen. Ohne Jungkooks Schutz sollten wir hier nicht schlafen.”

„Jungkooks Schutz?”, fragte Taehyung verwirrt, packte jedoch seine Sachen zusammen, um sich seinen Rucksack über den Rücken zu werfen. Hoseok nickte ernst.

„Wir sind momentan noch in dem Gebiet des Slums und da sollten wir raus, bevor wir Ärger kriegen. Die mögen Fremde nicht sonderlich. Hast du ja an Jungkook gemerkt.”

Ja, das hatte Taehyung. Wortlos folgte er dem anderen. Seine Gedanken kreisten wieder um Fragen. Viele Fragen. Slums. Das erinnerte ihn an das was er damals in Geschichte über diese Art der Behausungen gehört hatte. Doch in so einer Stadt? Er konnte es sich kaum vorstellen.

„Ich kenne Jungkook seit seiner Geburt. Da war ich hautnah mit dabei. Wohl einer der Gründe, warum ich mir eigene Kinder nicht antun konnte, so ne Geburt hat mir einmal gereicht.”

Hoseok lachte leicht, bevor er leise weiter erzählte. 

„Jungkooks Mutter war arm, sein Vater…”, Hoseok pausierte und entschied für sich, dass es für Taehyung unwichtig war solche Details zu kennen: „…keine schöne Kindheit.”

Die Art wie Hoseok die Worte aussprach ließen Taehyung erschauern. Sie ergriffen seine Brust und drückten zu. Jungkook und er, sie waren sich ähnlich in einem gewissen Sinne.

„Ich war noch jung und wohnte ganz woanders, aber soweit ich konnte habe ich ihm eben geholfen. Auch heute. Er will es zwar nicht, aber mein Geld ist bei ihm viel besser aufgehoben, als bei mir.”

Das war der Beutel gewesen. Deswegen war Hoseok vorhin noch zur Bank gegangen. Taehyung konnte es kaum glauben, doch er lauschte weiter. Mit Gänsehaut auf dem gesamten Körper.

„Der Slum, so nennen sie sich. Die Gruppe in der Jungkook groß geworden ist. Eine Gemeinschaft, die nicht sehr beliebt in der Stadt ist. Glaub mir, Jungkook hat die meiste Zeit seines Lebens auf der Straße verbracht. Doch am Ende kann er nichts dafür. Er kanns nur besser machen und das versucht er.”

Die Dunkelheit verschluckte Hoseoks Worte. Sie hinterließ Gedanken und Gefühle, die Taehyung ergriffen und ihn schlucken ließen. 

Jungkook hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht und hätte immer ein anderes vorgezogen. Außerhalb des Slum. Ein normales Leben. Taehyung jedoch hatte es sich ausgesucht. Er hatte es sich aufgebürdet, sich verboten besser zu leben. Er war wütend gewesen, er hatte stark sein müssen. Er war genervt gewesen, er…

„Hoseok?”, flüsterte er und fühlte sich wie ein kleines Kind. 

Ihn hatte etwas ergriffen. 

Etwas von der Vergangenheit. Von seinen eigenen Taten. Von dem was sein Vater getan hatte, was seine Mutter erduldet hatte, damit er nichts mitbekam. Taehyung spürte wie es ihm die Kehle zuschnürrte. Die Dunkelheit um ihn herum machte es nicht leichter, hinter jedem Schatten lauerte ein Monster.

„Ich hab angst.”

TrainwayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt