14. Tod im Lichtspielhaus

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Ein Date ohne sich zu unterhalten. Das hatte sich Tilda vorgestellt. Denn alles, was sie miteinander zu bereden hatten, machte ihre Situation doch nur komplizierter. Das hatte ihr letztes Treffen auf der Donauinsel eindrucksvoll bewiesen. Tagelang war sie durch die Welt gewandelt wie ein Zombie, hing ihren Gedanken nach und versuchte das zu begreifen, was ihr der Tod gesagt hatte. Nein, sie wollte nicht mehr mit ihm über seine Welten sprechen, wollte keine Diskussionen mehr über ihre Zukunft führen. Sie wollte ein stummes Date.

Doch je länger sie darüber nachdachte, wie so ein Date aussehen sollte, je schwieriger fiel ihr die Planung. Tagelang hatte sie vergebens gegrübelt. Schließlich sollte es perfekt sein. Jeder Moment mit ihm sollte perfekt sein, war ihre Zeit nun mal begrenzt. Die Zukunft gab es nicht, eine Beziehung mussten sie nicht aufbauen. Sie hatten jetzt, und das musste genutzt werden.

Eines Sonntagabends auf dem Weg zu Tante Ilse streifte ihr Blick eine Reklame. „Der Horror-Klassiker Dracula im Lichtspielhaus". Tilda stutzte einen Moment, ihre Füße blieben so abrupt stehen, dass sie beinahe gestolpert wäre. Sie schmunzelte. Wenn das nicht das perfekte, wortlose Date mit dem Tod war! Ganz begeistert hatte sie ihr Handy aus der Tasche gekramt, die Reklame abfotografiert und dem Tod das Bild via WhatsApp geschickt.

„Du, ich und Dracula im Lichtspielhaus?", hatte sie darunter geschrieben. Es dauert nicht lange, da sendete er ihr einen Daumen-hoch-Smiley. Und sie schrieb ihm Tag und Uhrzeit zurück. Gut gelaunt und mit sich zufrieden ging Tilda weiter und verbrachte einen gemütlichen und unbeschwerten Abend bei Tante Ilse. Sie hatte an diesem Sonntag besonders viel Essen gekocht, hatte sie sich doch vorgenommen, Tilda nach ihrer schweren Erkältung wieder aufzupäppeln. So rollte sie spät am Abend mehr nach Hause als sie ging.

Zwei Tag später traf sie den Tod an der Ecke vor dem kleinen Lichtspielhaus in der Breitenseer Straße zu ihrem schweigsamen Date. Am Tage grau und unscheinbar, lud das alte Lichtspielhaus am Abend mit weit offenen, hell erleuchteten Türen und feinsäuberlich bestückter Reklametafel zum Eintreten ein. Ihr unsichtbares Ich hatte sie heute wieder zuhause gelassen: Sie trug etwas Makeup, ein knielanges dunkelrotes Samtkleid, das einst schon Tante Ilse getragen hatte, und schwarze Pumps. Ihr nachtschwarzes Haar fiel offen in Kaskaden über ihre Schultern, streichelte ihren Hals.

Der Tod lächelte sein schelmisches Lächeln, als er sie kommen sah. Dahin war der ernste und traurige Geselle, der noch vor wenigen Tagen neben ihr auf der Bank gesessen hatte. Heute wanderte sein verschmitzter Blick von ihren Augen bis zu ihren Schuhspitzen, schließlich ließ er seine Augenbrauen nach oben zucken. Kurz stieg Tilda die Röte in die Wangen, dann lächelte auch sie. Stumm hob er seine Hand und reichte ihr eine altmodische Kinokarte. Sie nahm sie entgegen und gemeinsamen gingen sie in das Lichtspielhaus. Dabei griff sie nach seiner Hand und umfasste sie fest. So schlenderten sie händchenhaltend durch das alte Foyer, während unter ihnen das Holz der Dielen knarrte.

Als Tilda den großen, alten Kinosaal betrat, blieb sie für eine Sekunde stehen und schloss die Augen. Sie atmete den Duft der Vergangenheit ein. Etwas muffig, etwas holzig, und sehr würzig. Sie konnte die Lacher und die Schluchzer der vergangenen Besucher förmlich in ihrem Kopf hören, hörte Musik, Gedichte, Applaus. Was in diesem Saal wohl schon alles passiert war? Welche Filme schon gezeigt wurden, welche Emotionen in Menschen geweckt wurden, welche Liebesbeziehungen hier begonnen hatten. Es würde sie nicht wundern, wenn es hier nur so von Geistern wimmelte. Aber wenn sie mit dem Tod unterwegs war, zeigten sie sich nie.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, drückte er ihre Hand sanft und zog sie mit sich, an einen Platz in der Mitte des Saals. Sie nahmen auf den uralten Holzstühlen Platz und blickten sich für einen Moment an. Es war so ungewohnt, ihn nur zu betrachten. Ohne seine raue Stimme zu hören und ohne zu wissen, was in ihm vorging. So war er nur der Mann mit dem Hoodie und der Jeans, mit dem schelmischen Lächeln, das die Augen glitzern ließen. Und für diesen Abend würde sie das Bild, das sie sah, einfrieren. Würde es so akzeptieren, wie sie es sah. Keine Fragen stellen, keine Pläne machen, einfach nur sein.

Dann ging das Licht aus im Saal und die Stimmung änderte sich. Die schweren Samtvorhänge flogen zur Seite und gewährten den Blick auf eine große Leinwand, die langsam und flackernd zum Leben erwachte. In diesem Moment legte er seine Hand über die ihre. Er begann, mit seinem Daumen über ihren Oberschenkel zu streicheln. Malte kleine Kreise, die auf ihrer Haut kribbelnde Wellen auslösten, die dann wiederum immer größere Kreise zogen. Wie ein Stein, der auf eine ruhige Wasseroberfläche fiel.

Immer, wenn Tilda nervös war, kribbelten ihre Finger. Wenn sie besonders nervös war, kribbelte auch ihre Nase und sie musste nießen. Doch obwohl sie heute so nervös war, wie noch nie zuvor, zählte all das nicht: Denn die Kreise, die der Tod mit dem Daumen auf ihren Oberschenkel zeichnete, hatten ihren ganzen Körper in Aufruhe versetzt, jede einzelne Zelle kribbelte. Ihre Temperatur war um mindestens drei Grad gestiegen. Sie verfluchte das schwere Samtkleid, das sie trug. Dabei war es wie geschaffen für ein Date mit dem Tod, im Kino, bei einem alten Vampirfilm.

Das schien auch der Tod zu denken, denn während die ersten Vampire auf der Leinwand das Zeitliche segneten, wanderte seine Hand höher, bis er den Saum des grünen Kleides erreichte. Er spielte damit, bis Tilda ihn anblickte. Seine Augen glitzerten gefährlich im düsteren Licht des Kinos. Das Kribbeln wurde stärker, als er seinen Blick auf ihre Lippen senkte und sie endlich, endlich, küsste. Er begann sanft mit leichten Küssen, die nach Minze und Zitrone schmeckten und sie nur necken sollten. Dann wurde er immer fordernder. Er zog sie etwas näher an sich, die hölzernen Stuhllehnen zwischen ihnen waren dabei fast vergessen. Seine Zunge erkundete ihren Mund, seine Hand wanderte unter dem roten Samt höher. Tilda klammerte sich an ihn, sog seinen Duft ein, der sich mit dem würzigen Geruch des alten Kinos zu einem teuren Parfüm gemischt hatte. Ihr Kuss loderte wie Feuer, sprühte Funken, ließ das Kribbeln erblassen.

„Tilda", flüsterte er, seine Stimme so rau, dass sie erschauderte.

„Pssst", murmelte sie, ein breites Lächeln auf den Lippen. Sollte er die Magie doch nicht vertreiben, die sich wie ein alter Bühnenvorhang über sie gelegt hatte. Sie suchte im blassen Licht der Leinwand seine Lippen und küsste ihn weiter, wollte die Worte in seinem Mund ersticken und das Kribbeln in ihrem Körper weiter anfeuern. Seine Hand fuhr in ihre langen, samtigen Haare und formte eine Faust. Nun war sie es, die seufzte.

„Errmm, errmm", räusperte sich jemand hinter ihnen. Tilda schreckte auf, löste die Lippen. Hatte sie doch völlig vergessen, dass sie nicht allein waren. Zum ersten Mal ließ sie den Blick durch den gesamten Kinosaal schweifen. Beinahe die Hälfte aller Plätze waren besetzt und einige Gesichter in der Reihe hinter ihnen waren auf sie gerichtet. Sie errötete bis zu den Haarspitzen, kicherte aber leise. Dann warf sie dem Tod einen fragenden Blick zu. Er verstand und nickte. Dann erhob er sich und hielt ihr seine Hand entgegen. Unter den empörten Blicken der anderen Besucher kämpften sie sich aus der Reihe und stießen unzählige Taschen um. Tilda war sich sicher, dass die harten Holzstühle ihr den ein oder anderen blauen Fleck bescherten, die sie für die nächsten Wochen an diesen Tag erinnern würden.

Mit schnellen Schritten verließen sie den Saal, hasteten Hand in Hand durch das Foyer und verließen das Lichtspielhaus, kichernd wie zwei verliebte Teenager.

Tilda und der Tod | ✔️Onde histórias criam vida. Descubra agora