1. Tod am Buffet

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Der Tod stand einsam und beinahe hilflos am Canapé-Buffet von Tante Ilses 80. Geburtstagsfeier, verloren zwischen russischen Eiern und Lachshäppchen. Er sah so gewöhnlich aus, mit seinen dunklen Haaren, dem grauen Hoodie und der alten Jeans, dass er ihr beinahe gar nicht aufgefallen wäre. Nur die in fahlem Licht blass schimmernden Handschellen in seiner Gesäßtasche ließen sie für einen Moment stutzen. Ihre Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, denn sie kannte dieses Material nur zu gut: Sie waren aus demselben, durchsichtig schimmerndem Stoff, aus dem sonst nur Geister bestanden. Außer ihr schien niemand sonst die Handschellen zu bemerken. Nur auf sie wirkten sie so anziehend wie ein schlichtes Gänseblümchen auf einem Buch, das als Erkennungssymbol zweier Tinder-Nutzer in einem überfüllten Café diente.

Tilda aß die letzten Bissen ihres Lachs-Minisandwiches auf, strich sich die Krümel aus den Mundecken und stand auf. Der Nachmittag wurde plötzlich deutlich interessanter, als sie geahnt hatte. Mit langsamen Schritten lief sie auf den Fremden zu, der ihr noch immer den Rücken zudrehte. Er schien unentschlossen, welches Häppchen er als nächstes greifen sollte.

„Ist da etwa jemand auf Geisterjagd?", flüsterte sie mit leiser, rauer Stimme, als sie hinter ihm zum Stehen kam. Mit amüsierter Miene sah sie zu, wie der Fremde im Hoodie herumwirbelte. Seine herbststurmgrauen Augen waren für den Bruchteil einer Sekunde leicht geweitet vor Überraschung, als er vor ihr zum Stehen kam. Seine spröden Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln, ein Kleks Mayonnaise thronte vergessen in seinem rechten Mundwinkel. Seine Augen schimmerten, als er den Kopf senkte, eine leichte Verbeugung andeutete.

„Zu Diensten, Milady", antwortete er mit angenehmer Stimme. Tilda lachte und streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Ich bin Tilda." Für einen Moment betrachtete er ihre Hand, dann nahm er sie und schüttelte sie vorsichtig. Seine Hand war kalt, ganz so, als hätte er etwas zu lange in der winterlichen Kälte gestanden.

„Es freut mich dich kennen zu lernen, Tilda." Er ließ ihre Hand los.

„Was tust du hier?", fragte Tilda, die Neugier blubberte in ihr, wie in einer aufschäumenden Colaflasche. „Du bist sicher nicht zum Essen gekommen?" Kurz ließ er seinen Blick über ihre Schulter durch den Raum schweifen, ganz so, als würde er nach etwas suchen. Dann sah er sie wieder an. Seine Augen waren so grau, dass kein Funke Farbe darin Platz gefunden hatte.

„Ich suche einen besonders gerissenen Geist", sagte er. „Vielleicht kennst du ihn? Er treibt seit Jahren sein Unwesen hier, in dieser Kneipe." Tilda nickte, hatte sie es doch gewusst.

„Du meinst sicher den tollwütigen Willi?", antwortete sie. Seine Augen funkelten kurz auf und er nickte.

„Genau den." Tilda kannten den Geist der Trunkenbolde nur zu gut. Schließlich war dieses kleine Restaurant im Herzen der Altstadt schon immer Tante Ilses Lieblingskneipe gewesen. Stunden hatte sie hier verbracht, mit Tante Ilse und ihren zahllosen, mehr oder weniger verrückten Freunden. Bereits als kleines Mädchen war sie mit Tante Ilse hierhergekommen, hatte zugesehen, wie die Erwachsenen sich gegenseitig beim Kartenspielen beschummelten und hatte den tollwütigen Willi beobachtet. Stunden um Stunde hatte sie damit verbracht, ihm zuzuschauen, wie er all diejenigen an der Nase herumführte, die sich am Tresen einen Schluck zu nahe ans Delirium herangetrunken hatten. Er führte sinnlose Diskussionen mit ihnen, an die sie sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnten, legte ihnen wirre Worte in den Mund. Er ließ sie stolpern und wanken, ganz wie es ihm beliebte, stellte ihnen ein Bein oder gab ihren Barhockern einen kräftigen Stoß. Unzählige Male hatte er die kleine Tilda zum Lachen gebracht, während sich alle Menschen in der Kneipe fragten, warum das kleine Mädchen mit den langen, rabenschwarzen Haaren plötzlich kicherte.

Schon immer konnte Tilda Geister sehen. Es war für sie nichts Besonderes, dass sich die transparenten, leicht glitzrigen Dinger zwischen den achtlosen Menschen hinschlängelten und an ungewöhnlichen Orten ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Sie gehörten zu ihrer Welt wie Regen, Gras, Sonnenschein, Vögel und eben Tante Ilse. Erst, als Tilda älter geworden war, hatte sie feststellen müssen, dass ihre Gabe etwas besonderes war. Das nicht jedes Kind den Geist auf der Mädchentoilette in der Grundschule sehen und nicht jeder die beiden Geisterzwillingen in der Einkaufspassage beim Tanzen beobachten konnte.

Der Fremde im Hoodie, der noch immer vor ihr stand, räusperte sich. Tildas Gedanken waren wie so oft mit ihr durchgegangen, mit ihr in die Vergangenheit gereist, die nicht immer heiter war. Sie schüttelte den Kopf und damit alle lästigen Gedanken ab. Der Fremde schaute sie erwartungsvoll aus grauen Augen an.

„Du hättest ihn nicht finden können.", sagte Tilda. „Er versteckt sich am Tag für gewöhnlich in der Damentoilette, ganz hinten, in der letzten Kabine." Er schenkte ihr ein schelmisches Lächeln und wollte gerade zur Tür gehen, da hielt sie ihn am Ellenbogen fest. „Du hast Mayonnaise im Mundwinkel", sagte sie mit einem breiten Grinsen. Für den Bruchteil einer Sekunde ließ er seine Zunge hervorblitzen. Erst sah es so aus, als streckte er sie ihr entgegen, dann schleckte er den Klecks Mayonnaise fort.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und lief zur Tür. Erst, als er sie hinter sich schloss, fiel Tilda auf, dass er ihr seinen Namen nicht verraten hatte.

Tilda und der Tod | ✔️Where stories live. Discover now