4. Tod bei Starbucks

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Einige Tage später, am besagten Samstag, da betrat Tilda um genau 15:00 Uhr das Starbucks an der Ecke. Sie öffnete die einladend quietschende Tür und entdeckte den Tod sofort: das rabenschwarz gelockte Haar und das immer gleiche, graue Hoodie waren unverkennbar. Er saß mit dem Rücken zu ihr vor der großen Fensterfront, einen Kaffeebecher vor sich und einen auf dem Platz neben sich.

Das Café war gut gefüllt an diesem Nachmittag. Eine lärmende Schlange wandte sich durch den Laden. Erleichterung durchströmte Tilda bei dem Gedanken, sich nicht anstellen zu müssen. Eigentlich mochte sie Starbucks nicht sonderlich. Aber in dem Moment, als sie ihn gefragt hatte, ob er mit ihr einen Kaffee trinken gehen wollte, da schien es für sie die sicherste und unverfänglichste Option zu sein. Mit ausgestreckten Händen pirschte sie sich durch das Café, in einem verzweifelten Tanz, um so wenig Menschen wie möglich zu berühren. Was sich, zugegeben, als ziemlich schwierig herausstellte. Geräuschvoll ließ sie sich neben ihn auf dem Platz fallen. Er blickte auf und lächelte.

„Nie wäre ich auf die Idee gekommen, in einem Café Platz zu nehmen und hinaus zu starren", sagte er, ohne sie zu begrüßen. Sie lächelte und nahm den Kaffee vor sich zur Hand, öffnete den Deckel, nahm einen Schluck und stellte mit etwas Überraschung fest, dass er ins Schwarze getroffen hatte: Grande Caffé Latte mit einem Päckchen braunem Zucker.

„Und", fragte sie, „lohnt es sich?" Er nickte, das schelmische Lächeln, das ihm so gut stand, wieder auf seinen Lippen.

„Ich glaube, ich mache das jetzt öfter." Sie stimmte in sein Lächeln ein und für einige Minuten blickten sie gemeinsam schweigend nach draußen. Sie sahen dem geschäftigen Treiben auf dem Gehweg vor ihnen zu, sahen Menschen auf und ab gehen, in die Bahn steigen, die Straße kreuzen. Große Menschen, kleine, dicke und dünne, helle, dunkle. Leute mit grauen Anzügen und mit verrückten, bunten Sportkleidern. Und niemand beachtete sie.

„Fühlst du dich eigentlich als einer von ihnen?", fragte Tilda, ohne ihren Blick vom Gehweg zu nehmen.

„Ich denke nicht", sagte er langsam, nachdenklich. „Es liegt in meiner Natur. Sie nehmen mich nicht wahr, musst du wissen. Zwar sehen sie mich, aber für ihre Augen bin ich viel zu gewöhnlich, um einen zweiten Blick zu verdienen. Außerdem gibt es uralte Zauber, die sie meine Anwesenheit sehr bald vergessen lassen." Tilda seufzte schwer.

„Da geht es dir wie mir." Der Tod nahm seinen Blick zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen vom Gehweg und betrachtete sie eindringlich von der Seite. Er ließ sich einige Zeit mit seiner Antwort.

„Womöglich ist das genau das, was du willst", sagte er schließlich, wieder diese Tiefe in der Stimme. „In der Menschenmasse zu verschwinden, sodass niemand bemerkt, dass du besonders bist." Sie lauschte seinen Worten und ließ sie wirken. Dann zuckte sie mit den Schultern.

„Womöglich." Sie schlürfte geräuschvoll am Kaffee, dabei blickte sie an sich herunter. Dunkle Leggins, graues Shirt. Lange hatte sie darüber nachgedacht, was sie anziehen sollte. Zwar war es kein Date, aber immerhin traf sie jemanden zum Kaffee. Zum allerersten Mal in ihrem Leben! Dazu noch jemanden, der sie in Gedanken verfolgte, sogar bis in die silbrig graue Welt zwischen Wachsein und Schlaf. Aber dennoch hatte sie sich für etwas unauffälliges entschieden. Weil sie das eben so tat. Sie war nicht der auffällige Typ. Mochte es, wenn Schatten auf sie fielen, scheute das Rampenlicht.

„Was hat es eigentlich mit deiner kleinen Besonderheit auf sich?", fragte er, den Blick wieder fest auf den Gehweg gerichtet.

„Was genau meinst du?"

„Na, deine Beziehung zur Geisterwelt. Deine Gabe. Wie kommt das?" Tilda zuckte mit den Schultern. Noch ein erstes Mal in ihrem Leben. Mit niemandem zuvor hatte sie bisher über ihre ungewöhnliche Gabe gesprochen, außer natürlich mit Tante Ilse. Zu viele schlechte Erfahrungen hatten sie in ihrer Kindheit und Jugend damit gemacht. Zu viele Besenkammern und Wandschränke hatte sie von Innen gesehen, zu viele Lacher und spöttische Blicke geerntet. Aber der Tod klang weder spöttisch noch belustigt. Er klang aufrichtig, sogar etwas neugierig. Und Besenkammern waren auch nicht in unmittelbarer Nähe zu sehen.

Tilda und der Tod | ✔️Where stories live. Discover now