2. Tod an der Supermarktkasse

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Nach Tante Ilses Geburtstagsfeier flogen die Tage nur so dahin, aus Advent wurde Weihnachten, aus Weihnachten wurde Silvester. Dicke Flocken legten sich über Wien und verwandelten die Stadt zum Finale des Jahres für einige, kostbare Tage in einen wunderbaren Wintertraum. Dann entschwand das alte Jahr still und leise und ließ sie mit einem leeren Blatt und einem prall gefüllten Füllfederhalter allein. Alle von Tante Ilses köstlichen Plätzchen waren verspeist, die Urlaubstage aufgebraucht. Und so musste Tilda zurück zur Arbeit in ihre Bibliothek.

Nicht mehr lange, dann standen die Prüfungen vor der Tür und die Studierenden schwärmten wie wütend gewordene Hornissen in die Bibliothek. Ganz so, als sei sie ihr Nest. War die Bibliothek sonst so herrlich ruhig und einsam, so war sie nun prall gefüllt mit all denen, die verzweifelt versuchten, ihr lückenhaftes Wissen temporär zu erweitern. Nicht einmal die zahlreichen schimmernden Geister, die sich sonst zwischen den Regalen tummelten, ließen sich blicken.

Doch auch wenn die Zeit anstrengend war, so liebte Tilda ihre Arbeit in der Bibliothek. Schon immer hatten Bücher eine ungeheure Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Bereits in Tante Ilses Wohnung hatten sie zur Familie dazugehört, standen wie buckelige Verwandte in der Regalwand im Wohnzimmer und beobachteten jede Lebensphase, durch die Tilda schritt. Ganz so, als warteten sie nur darauf, dass Tilda nach einem von ihnen griff und sich von ihnen Wissen und Zerstreuung auslieh. Und da ihr Leben mit den unzähligen Geistern darin, die niemand sonst sehen konnte, sehr turbulent war, benötigte sie häufig ihre Zerstreuung. Dann griff sie wahllos in das Regal, nahm sich eine von Tante Ilse selbstgehäkelte Decke und rollte sich auf dem Sofa zusammen. So entkam sie der Welt und all ihren menschlichen und dahingeschiedenen Geistern für einige Stunden.

Die Geister blieben in ihrem Leben, genau wie die Liebe zu den Büchern. Nach besonders anstrengenden Tagen in der Schule wünschte sie sich fort, an einen Ort, wo es keine Geister gab. Oder sie verfluchte ihre Gabe, die sie so anders machte. Die sie von allen anderen Menschen unterschied. Die Spott und Häme auf sie fallen ließ, die sie als Sonderling brandmarkte. Nur die Bücher, die verstanden sie. Sie erzählten ihr Geschichten von Gleichgesinnten oder von Schicksalen, die noch viel fantastischer waren als das ihre. Sie gaben ihr Zuversicht und Trost, waren ihre Freunde. In der Schulzeit und auch, als sie ihr Studium begann.

Als Tilda in einer fernen Stadt in ihr kleines Studentenzimmer zog, da hatte sie wenig Platz für Bücher. Einige stapelte sie neben ihrem Bett, andere darunter. Aber es reichte bei weitem nicht aus, war sie doch Tante Ilses riesige Regalwand gewohnt. So begann sie damit, ihre freie Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Sie suchte sich einen gemütlichen Platz am Fenster, den sie eisern verteidigte und an dem sie so viel Zeit verbrachte, wie wohl kaum jemand sonst. Dort las sie, schaute dem Regen zu, wie er kleine Straßen auf die Glasscheibe zauberte, träumte sich fort in die Buchwelten oder hing einfach nur ihren Gedanken nach. So wurde die Bibliothek zu ihrem Zuhause und noch bevor sie ihr Studium beendet hatte, wusste sie, dass das ihr Leben war.

Tilda kehrte zurück nach Wien, zu Tante Ilse, und begann als Bibliothekarin zu arbeiten. Sie nahm sich eine kleine, gemütliche Wohnung, die doch etwas Platz für Bücherregale bot. Bald schon zogen zwei Katzen ein, die sich nicht an ihren Geisterbegegnungen störten, denn schließlich sahen und rochen sie sie auch. So suhlte sich Tilda Tag ein Tag aus in ihrer herrlichen Routine zwischen Büchern, Katzen und dem gelegentlichen, schimmernden Geist, während sie ihr Leben dahinträumte. Da war es auch nicht weiter schlimm, wenn für einige Wochen Hochbetrieb in der sonst eher menschenleeren Umgebung herrschte. Denn sie wusste, bald würde es wieder ruhiger werden.

Eines Abends, nach einem Tag mit besonders viel Trubel, da ließ Tilda die Bibliothek in völliger Dunkelheit hinter sich. Noch bevor sie um die Ecke in die Straße einbog, machte sich ihr knurrender Magen bemerkbar. Bei dem Gedanken an den beinahe leeren Kühlschrank in ihrer Wohnung knurrte der Magen noch ein wenig lauter, also machte sie auf halber Strecke nach Hause halt, um noch etwas einzukaufen. Den Supermarkt und all seine lebendigen und transparenten Mitarbeiter kannte sie nur zu gut. Während sie Tiefkühlpizzen aus der Gefriertruhe nahm, grüßte sie den gemütlichen Günther, der ein herrliches Eisbad zwischen Tiefkühlerbsen und Brokkoli genoss. Sie winkte der heiteren Hedi hinter der Fleischtheke, die sich mit verliebtem Blick immer in der Nähe des Metzgerssohn aufhielt, der die Fleischwaren verkaufe. Tilda füllte etwas Obst in den Korb und die ein oder andere Süßigkeit, dann war sie fertig. Den Gedanken des Tages nachhängend, stellte sie sich in die Schlage an der Kasse und ließ ihren Blick schweifen. Zunächst über die Kunden, mit ihren vollen Einkaufskörben. Über die Kassiererin, die wie immer in absolut rekordverdächtigem Schneckentempo arbeitete. Dann über die Putzfrau, die den Eingangsbereich putzte und schließlich durch die große Glasscheibe nach draußen auf den vom Laternenlicht erhellten Gehsteig.

Sie blinzelte.

Es kam nicht allzu oft vor, dass sie ihren Augen nicht traute – hatte sie doch schon zu viel gesehen – aber in diesem Moment stutzte sie. Ein groß gewachsener Mann in Jeans und grauem Hoodie rangelte vor dem Fenster mit einem perlmutt-schimmernden Geist. Der Geist bäumte sich auf und ließ seine Fäuste tanzen, Schlag folgte Schlag. Doch der Mann im Hoodie war flink. Er wich seinen Schlägen aus, schien zu lauern. Und als der Geist in guter, alter Karate-Manier einen Tritt in die Magengrube des Mannes setzten wollte, nahm er den Fuß und drehte ihn um. Der Geist verlor das Gleichgewicht und polterte auf den eisigkalten Gehweg. Der Mann zog etwas Schimmerndes aus seiner Gesäßtasche und fixierte damit die Hände des Übeltäters. Dann zog er den Geist zurück auf seine Füße. Er hielt ihn an der Schulter fest und lief mit ihm nach rechts die Straße entlang. Doch eine Sekunde, bevor er das Blickfeld des Supermarktfensters verließ, schaute er auf.

Vielleicht war es Zufall, vielleicht nicht. Aber sein Blick fing den ihren ein. Er fuhr sich mit der freien Hand durch die zerzausten, dunklen Locken und hob die Hand anschließend zum Gruß. Das schelmische Lächeln war auf seine Lippen zurückgekehrt. Völlig perplex hob auch Tilda die Hand. Dann war er verschwunden.

„Was hast du denn mit dem alten Seelensammler am Hut?", säuselte eine Stimme in ihr Ohr. Sie erschrak fürchterlich und drehte sich unter den verwirrten Augen der Kassiererin zum gemütlichen Günther um, der das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen hatte.

„Wie bitte?", flüsterte Tilda verwirrt, nahm ihr Handy heraus, sodass es aussah, als ob sie über ihre Kopfhörer telefoniert.

„Na mit dem Seelensammler", er verdrehte die Augen. „Tod, Beelzebub, Gevatter, dunkler Prinz, Sensenmann, Weltenspringer, Todbringe – wie auch immer du ihn nennst." Sie stutzte.

„Ich habe ihn am Buffet auf Tante Ilses Geburtstagsfeier getroffen", flüsterte Tilda, mehr zu sich als zum gemütlichen Günther. Ihre Gedanken explodierten zu einem wilden Feuerwerk, als sie darüber nachdachte, wer der Mann war, dem sie neulich so unbedarft angesprochen hatte. Der Tod. Ohne schwarzen Kapuzenmantel, dafür aber mit grauem Hoodie. Ohne seine Sense, aber mit einem Paar Geisterhandschellen in der Hosentasche. Verrückt, dachte sie und schüttelte den Kopf.

„Das macht dann 18 Euro 91.", sagte die Kassiererin und riss sie aus ihrer Gedankenwelt. Tilda zahlte, packte ihre Einkäufe ein und machte sich endgültig auf den Heimweg. Immer die Augen offen, ob sie vielleicht doch noch eine Spur des ungewöhnlichen Mannes in den Straßen entdeckte. 

Tilda und der Tod | ✔️Where stories live. Discover now