5. Tod am Handy

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Wie eine Nachricht vom Tod, so ließ auch der Frühling in diesem Jahr sehr lange auf sich warten. Für Tilda fühlte es sich so an, als hätte sich der Winter fest im Lauf der Zeit verbissen. Als hätte er seine Krallen etwas zu tief in der Erde versenkt, sodass sie sich verfangen hatten. Graupelschauer folgten auf eisige Winterstürmen und triste Tagen, während die Sonne noch immer nicht genug Kraft gesammelt hatte, um ihn aus ihrem Revier zu vertreiben.

Oft saß Tilda vor dem Fenster im Wohnzimmer und schaute heraus. Sie hatte sich einen gemütlichen Lesesessel gekauft, einen mit passendem Hocker für die Beine. Darüber hing zu jeder Jahreszeit die dicke Häkeldecke, die Tante Ilse für sie angefertigt hatte. Wenn sie daran roch und sich nur gut genug konzentrierte, dann konnte sie noch immer die Spur Kölnisch Wasser riechen, die an allen Gegenständen haftete, die mit Tante Ilse in Berührung gekommen waren.

Bei dem Wetter, das auch an diesem Samstag vor ihrem Fenster tobte, konnte sie sich getrost in Ilses Decke wickeln. Allein das Zusehen ließ sie bereits frösteln. Sie kochte sich einen herrlichen Tee und stellte ihn auf den kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Dann starrte sie weiter nach draußen und hing ihren Gedanken für eine Weile nach, während der Winter vor dem Fenster noch immer sein Territorium verteidigte. Blitze durchfuhren den Himmel, Regen peitschte gegen die Scheibe. Sie liebte solch ungezähmte Emotionen der Natur. Manchmal wünschte sie sich, dass auch sie so ausbrechen konnte: wie eine Naturgewalt toben, vor Wut oder Freude. Wie ein Gewittersturm durch einen Raum fegen und alle Gefühle herauslassen, die in ihr lebten. Schreien, lachen, tanzen, brüllen. Denn die meiste Zeit über war sie still und zurückhaltend. Gefühlsausbrüche waren bei ihr sehr selten, ganz im Gegensatz zu Tante Ilse. Um so erstaunlicher war es, dass sie bei ihrem Kaffeedate mit dem Tod mitten im Starbucks völlig die Kontrolle über ihren Lachanfall verloren hatte. Wenn sie sich daran zurückerinnerte, musste sie noch immer ein wenig grinsen.

Normalerweise war ihr die Gegenwart von neuen Bekannten eher unangenehm. Zu viele Fragen, zu viele musternde Blicke, der Drang zu groß, mehr über sie zu erfahren. Aber mit dem Tod war es ganz anders gewesen. Er war zwar einige tiefgreifende Fragen gestellt, aber seine Aufmerksamkeit war vorsichtig und keinesfalls aufdringlich gewesen. Die meiste Zeit über hatte er mit ihr zusammen aus dem Fenster geblickt. Sie hatte sich unbeobachtet gefühlt mit ihm und das hatte sie entspannt. So entspannt, dass sie zum Ende ihres Treffens in einen wirklich kindischen Lachanfall verfallen war. Oh man, dachte sie. Was er wohl über sie dachte? War das der Grund, warum er sich noch nicht bei ihr gemeldet hatte?

Eine normale junge Frau hätte diesen Punkt vermutlich ausführlich mit ihren Freundinnen diskutiert. Hätte seine Reaktionen zusammen mit ihnen Revue passieren lassen, hätte jedes noch so kleine Detail mit ihnen analysiert. Aber so war Tilda nicht. Sie hatte nur eine Handvoll Menschen, die sie zu ihren Freunden zählte. Da waren Johanna und May aus dem Studium, die weit fortgezogen waren. Eine nach Columbien, die andere nach Mumbai. Aufgrund der Zeitverschiebung war es verdammt schwer geworden, gemeinsame Videotelefonate durchzuführen. So schrieb Tilda oft mit ihnen, aber von ihrem Treffen mit dem Tod hatte sie nichts erzählt. Wie auch, wenn die beiden nicht einmal von ihrer Verbindung zur Geisterwelt wussten. Nun ja, sie hätte ihnen von Tristan erzählen können, die ganze Seelensammler-und-Beelzebub-Geschichte einfach weglassen können. Aber es fühlte sich nicht richtig an.

Auch Ulrike und Selma, ihren Arbeitskolleginnen-und-mittlerweile-Freundinnen, hatte sie nicht von ihm erzählt. Zwar waren ihr die beiden nach anfänglichen Turbulenzen sehr ans Herz gewachsen und ihre Anwesenheit störte sie nicht sonderlich, doch über Männer wollte sie mit ihnen nicht sprechen. Sie malte sich ihre Reaktion aus, wenn sie ihnen von einem Date bei Starbucks erzählen würde. Geschweige denn, dass er sie in der Bibliothek besucht hatte und bis kurz vor Mitternacht geblieben war. Ulrike, die kleinere der beiden, hätte sicher wieder Schnappatmung bekommen. Und Selma hätte gar nicht mehr aufhören können zu Kichern. Dann hätten die Fragen eingesetzt: Woher kennst du ihn? Wie alt ist er? Wo kommt er her? Was macht er beruflich? Ist er sexy? Und bei all diesen Fragen wäre Tilda in Schwierigkeiten geraten. Denn keine davon konnte sie so richtig ehrlich beantworten. Und außerdem würden die beiden sofort die falschen Schlüsse ziehen. Immer waren sie auf der Suche nach „Boyfriendmaterial", wie sie es nannten. Selbst die armen Studierenden waren vor ihnen nicht sicher, obwohl Ulrike schon sehr nahe am oberen Rand der 40er angekommen war. Und der Tod, nun ja, er war alles andere als „Boyfriendmaterial". Bei dem Gedanken musste Tilda schmunzeln. Er war aus ganz anderem Holz geschnitzt, ziemlich dunklen nämlich.

Tilda und der Tod | ✔️Where stories live. Discover now