7| 21. Mai 1985

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Der Junge verzog das Gesicht, als er seinen Arm im Schlund des Mülleimers versenkte. Es hatte was von der Nacht, als er in Zions Mund hatte greifen müssen, um all die Pillen davon abzuhalten, ihn endlich umzubringen. Aber der Mülleimer keuchte und würgte nicht, auch wenn er bei all dem Sommerregen mindestens genauso feucht war wir Zions Mundhöhle. Er kotzte auch keine Pillen aus, obwohl Kaz drauf schwören konnte, dass sie hier gewesen waren. Dass sie hier sein sollten.

Eine Dose Fentanyl, ein kleines Bündel Ein-Dollar-Scheine, ein Sandwich von vorgestern, präzise einundzwanzig Sicherheitsnadeln und ein Tütchen Kokain, alles hübsch eingewickelt in einer Plastiktüte und am Boden des Mülleimers befestigt, wie Amir es gesagt hatte. Wie es in den letzten paar Wochen immer gewesen war.

Er hatte den anderen Jungen dabei beobachtet, wie er die Tüte ganz auf den Grund gestopft hatte, jedenfalls, bis die Cops gekommen waren. Dann war er gerannt.

Er musste wieder an Zions Mund denken, als er eine undefinierbare schleimige Masse streifte. Seine Finger tasteten durch leere Flaschen, zerknüllte Taschentücher, halbgegessene Hamburger. Nichts. Keine Tüte. Der warme Regen kroch seinen Nacken hinab.

"Verdammte Scheiße", mit einem Tritt gegen den Mülleimer zog er seine Hand aus der stinkenden Ansammlung an Unrat. Das war's also.

"Gottverdammte Scheiße!"

Ein älterer Mann auf der anderen Straßenseite, der vor seinem Kiosk stand und rauchte, bedachte ihn mit einem finsteren Blick, als wüsste er ganz genau, nach welchen Schätzen Kaz hier grub.

Pillen. Beschissene Pillen, die ihn all die Scheiße vergessen ließen. So wie Zion. Zion, der in der Nacht zwar nicht an Temazepam und Vodka verreckt war, sich dafür aber zwei Wochen später das Hirn mit ner 11-87 weggeblasen hatte.

"Was glotzt du so?", fuhr er den Ladenbesitzer an und wandte sich wütend vom Mülleimer ab. Sein vom Regen durchnässtes T-Shirt hatte all den Schweiß, Dreck und Staub der letzten Wochen aufgesogen und klebte jetzt auf widerliche Weise an seiner Haut. Wasser tropfte ihm aus den Haaren ins Gesicht.

Kaz wischte die Locs aus seinem Sichtfeld, trat noch ein letztes Mal gegen den Mülleimer, der in den vergangenen Sekunden nicht um eine Dose Fentanyl, ein kleines Bündel Ein-Dollar-Scheine, ein Sandwich von vorgestern, genau einundzwanzig Sicherheitsnadeln und ein Tütchen Koks reicher geworden war und verschwand dann um die nächste Ecke.

Dieser Teil der Stadt war voll von heruntergekommenen alten Backsteinäusern und baufälligen Lagerhallen, Hütten aus wellblech und leeren überwucherten Grundstücken, auf denen man manchmal ein paar andere Obdachlose über einem Feuer erwischen konnte. Der ganze Ort stank nach Hoffnungslosigkeit und verschwamm im Regen zu einem grauen, formlose Fleck Welt im Süden, das vor hundert Jahren auch nicht großartig anders ausgesehen haben konnte.

Kaz fuhr sich mit den Händen frustriert über sein Gesicht und suchte Schutz im Eingang der nächsten leer stehenden Lagerhalle, wo das Dach gerade weit genug vorstand, um ihn vor dem Großteil des Regens zu schützen. Ein Blitz zuckte über den Himmel und in der Ferne hörte er ein dumpfes Donnergrollen.

Das Sandwich hätte seinen knurrenden Magen beschwichtigt. Amirs Mutter belegte es immer mit Schinken, Ei und Gewürzgurken. Das Fentanyl hätte ihn durch die Nacht gebracht. Nur noch dieses eine Mal. Den Rest hätte er zusammen mit dem Koks verkauft. Die paar Dollar hätten ihn die nächsten Tage über Wasser gehalten. Und die Sicherheitsnadeln waren für allen möglichen Scheiß gut.

Jetzt. Jetzt hatte er nichts. Seine T-Shirt war klitschnass, seine Schuhe lösten sich langsam auf. Er war sich nicht mal mehr genau sicher, in welchem verfickten Kaff in welchem verfickten Staat er eigentlich war. Irgendwo, wo sie stolz Konföderationsflaggen an ihren Trucks festmachten und alte weiße Männer ihn mit einem herablassenden Grinsen "Boy" nannten, wenn sie ihn ansprachen.

Night BusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt