5| Abend, 28. August 1985

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Kaz sprach den Rest der Zeit weder mit Twilight noch mit ihr, aber Lore bemerkte, dass er nervöser zu werden schien, je weiter die schwarzen Zeiger der großen Uhr, die über dem Eingang der Information hing, in Richtung Abend rückten. Er wurde unruhig und begann abwesend, die Finger in den Stoff seines Hoodies zu graben, bevor er nach einer Weile ruckartig aufstand und vor der Bank hin und her lief.

Lore hatte ihn mehrmals gefragt, ob es ihm gut ginge, ob er noch etwas brauchte, aber Kaz hatte stillschweigend abgelehnt. Er ging nur immer wieder hastigen Schrittes zu der Dame am Informationsschalter und warf besorgte Blicke hinter das zerkratzte Glas der großen Uhr, wo die Ankunft des Buses nach Los Infiernos immer näher rückte.

Sie lauschte Twilight währenddessen nur halbherzig, auch wenn das Mädchen gern und viel erzählte. Besonders detaillierte Geschichten über Heather Finley, die sich für "etwas Besseres" hielt, diese "Gewitterziege", die ja aber gar nicht den Schneid hätte, einfach so von zu Hause abzubauen um nach Los Infiernos zu fahren.

"Ich hab ewig dafür gespart, weißte?", meinte Twilight mit Stolz geschwellter Brust und steckte sich ein Kaugummi in den Mund. "Seit ich das erste Mal davon gelesen hab. Das war in sonem alten Magazin von meiner Tante. Soll da ja richtig krass abgehen."

Lore dachte an den Artikel zurück, den sie vor Ewigkeiten mal in einer gebrauchten Black Mass gelesen hatte. Sie hatte ihn farbig markiert und die Zeitschrift unter ihrer Matratze versteckt, weil sie sich sicher gewesen war, dass Vince sie ihr abgenommen und als "satanischen Schwachsinn" in den Müll geworfen hätte.

Der Artikel hatte einen kurzen Einblick in die lange und komplizierte Geschichte von Los Infiernos geboten, in die verschiedenen Investoren, die das Land gekauft und wieder fallen gelassen hatten, bis es schließlich zur Festivalmeile geworden war. Der größte Abschnitt hatte sich natürlich den Veranstaltungen gewidmet. Das "Night of the Living Dead", "All Hallows' Eve", das "Hellfire" und die Wintersonnenwende.

Eigentlich war Los Infiernos das ganze Jahr über ein Pandemonium aus Konzerten, Feiernden und Verlorenen, wobei nur sehr wenig an die Außenwelt vordrang.

"Das ist ja der Spaß", sagte Twilight Kaugummi kauend, als sie die Sache ansprach. "Das Mysterium. Wenn alle wüssten, was abgeht, dann wär der Zauber weg."

Das Mädchen erzählte außerdem von ihren ersten Konzerten, von ihrem schwarzen Make-up und Stachelarmbändern, die ihre Mutter "einfach wahnsinnig" machten und von den Rotten SAint's, die ja "total heiße" Typen wären und es musikalisch voll drauf hätten, das müsste Lore sich unbedingt reinziehen. Sie hatte den Drummer sogar fragen wollen, ob er mit ihr ausgehen würde, aber das fände sie dann doch unfair gegenüber Malakai.

Twilight erwähnte Malakai oft. Sehr oft. Ein Name ohne Gesicht, nicht mehr als hübsch geschwungene Buchstaben auf vergilbtem Papier. Geschrieben in echter Tinte, versicherte ihr Twilight. Und mit Blut unterzeichnet.

"So romantisch", Twilight lächelte genauso, wie alle verliebten Mädchen lächelten, die Lore jemals gekannt hatte. "Weißt du, wäre Malakai nicht, hätte ich vielleicht gekniffen. Aber er wartet ja auf mich."

Lores Verstand zeichnete einen fiktiven Malakai, einen großen, schlanken Typen mit Haut wie Porzellan und langem schwarzen Haar, der im Halbdunkel an seinem Schreibtisch saß, sich mit einer Rasierklinge in den Arm schnitt und dann die Feder seines Füllers in das Blut tauchte. Ein Malakai, der in Schnörkeln übte, seinen Namen so schön wie möglich zu schreiben, nicht wie in seinen Mathehausaufgaben oder in seinem Englischaufsatz, sondern wirklich schön. So, wie die Leute in Frankenstein und Jane Eyre und Dorian Gray und Dracula sprachen.

Sie hatte Jungs wie Malakai gekannt. Manche waren ihre Freunde gewesen. Manche Trinkkumpanen in kalten Winternächten auf den Dächern in die Jahre gekommener Autos, wenn alles verloren und sinnlos schien. Manche waren Arme zum Festhalten gewesen, schlanke, blasse Finger, die schwarze Farbe auf ihren Augenlidern verteilten. Atem, der nach Gras und Bier und Zigaretten roch, manchmal nach Nelken, immer einsam.

Night BusWhere stories live. Discover now