Temporäre Einsamkeit

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An diesem Morgen hat sich Cain mühselig aus dem Bett gequält. Wissend, dass Evelyn die Einrichtung höchstwahrscheinlich schon verlassen hat, ist seine Laune soeben in den Keller gesunken. Dennoch muss er sich für sie zusammenreißen. Nun liegt es an ihm das gemeinsame Geheimnis zu bewahren. Wenn er allerdings wieder an die monatlichen Tests denkt, rollt es ihm die Fußnägel zurück. Doch bis es soweit ist, bringt er erstmal die tägliche Gewichtskontrolle hinter sich. Sein zuständiger Betreuer runzelt die Stirn, als er das neue Ergebnis sieht. „Ich weiß, was ich dir gesagt habe, 073, allerdings bin ich schon über deinen gesteigerten Appetit erstaunt. Du hast fast fünf Kilo zugenommen. Übertreib es nicht, okay?" So ein Mist! Seine ungeplante Gewichtszunahme muss an dem Kuchen liegen, den Evelyn ihm immer mitgebracht hat. Immerhin ist sein Körper nicht an Süßigkeiten gewöhnt, sodass er nun so darauf reagiert hat. „Ich werde mich etwas zurückhalten, Doc." Damit ist er entlassen und darf in die Kantine gehen. Cain versteht bis heute nicht, warum man ihn täglich auf die Waage stellt. Immerhin hat er doch keine Essstörung. Nach dem Frühstück denkt der Schwarzhaarige wirklich darüber nach, ob er nicht einfach wieder ins Bett gehen soll. Wenn er zu den angeordneten Untersuchungen nicht erscheint, wird es ein großes Donnerwetter geben, also will er es einfach nur schnell hinter sich bringen. Cain kommt in das Behandlungszimmer von Dr. Andrew und ist erstaunt darüber, dass noch zwölf weitere Forschungsassistenten anwesend sind. Dabei handelt es sich um genau sechs Männer und sechs Frauen.

In der Mitte des Raumes steht auf einem kleinen Tisch eine Schale, in der ein Skalpell liegt. „Guten Morgen, 073", begrüßt Dr. Andrew ihn. „Aus dem Ergebnissen der letzten Experimente haben die oberen Herrschaften einen neuen Test angeordnet. Wir wiederholen den Versuch vom letzten Monat. Einer von meinen Forschungskollegen hat das Skalpell dort aufgebaut. Mit diesem Experiment wollen wir herausfinden, wie deine Anomalie darauf reagiert wenn du nicht weißt wer dein Angreifer ist." Cain runzelt die Stirn und kräuselt kurz seine Augenbrauen, während er sich einen Assistenten nach dem anderen anschaut. Er versucht in den unterschiedlichen Gesichtern eine Mimik zu lesen. Ein kleiner Hinweis darauf, wer sein Folterinstrument dorthin gelegt hat. Doch kann er keine Zeichen deuten. Sie haben alle ein emotionsloses Pokerface aufgesetzt. „Also dann..." Dr. Andrew deutet auf die scharfe Klinge. „Ich bitte dich darum anzufangen." Cain greift nach dem Skalpell und setzt sich auf den Stuhl. Auch diesmal wird ihm wieder ein Spiegel zur Verfügung gestellt. Plötzlich kann er spüren wie sich sein Puls erhöht. Ein seltsames Unbehagen keimt in ihm auf. Wenn Cain genauer darüber nachdenkt, dann wurde so ein Test noch nie an ihm durchgeführt. Es stimmt, was Dr. Andrew sagt: Er kennt seinen Angreifer diesmal nicht. Widerwillig setzt er das Skalpell an seinem hinteren Ohr an. Ein gewisser Grad an Angst kommt in ihm hoch. Warum tut man ihm das immer wieder an? Wieso kann man ihn nicht einfach so sein lassen wie er ist?

Cain schluckt einmal bitter. Er zögert. In seinem ganzen Leben hat er noch nie solche Furcht verspürt wie in genau diesem Moment. „Wir haben nicht den ganzen Tag lang Zeit, 073", ermahnt Dr. Andrew ihn. Cain schluckt erneut bitter. Völlig unerwartet, schießen ihm die Bilder durch den Kopf, die Evelyn ihm gezeigt hat. Die vielen, verschiedenen Tiere und die endlose Schönheit der Natur. Genau in diesem Augenblick wird ihm klar, wie sinnlos das hier alles ist. Zum ersten mal in seinem Leben, tut er etwas völlig unerwartetes. Er widersetzt sich. „Nein", sagt er mit harscher Stimme und lässt das Skalpell fallen. Cain steht wieder auf. „Ich will nicht." Völlig verblüfft darüber, dass er sich weigert, kann Dr. Andrew im ersten Moment gar nichts sagen. Ungläubiges Gemurmel bricht zwischen den Forscherassistenten aus. Sie können einfach nicht glauben, dass der immer gehorsame Cain sich einem Befehl widersetzt. „Das soll wohl ein Scherz sein, 073. Du weißt genau was passiert wenn du nicht tust was man dir sagt. Oder hast du etwa Angst?" Cain leugnet es nicht. „Ja, ich habe Angst. Man hat versucht mir Blut abzunehmen – Tausend mal. Man hat versucht mir Gewebe zu entnehmen – Tausend mal. Und hat es was gebracht? Nein, hat es nicht. Okay, das ist bescheuert. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn man ständig von anderen aufgeschnitten wird? Mir reicht's, ich bin sowas von weg." Cain dreht sich um und geht einfach. „073, komm sofort zurück." Doch diesmal ignoriert er den Doc einfach. Cain weiß, dass er sich mit Sicherheit gerade mindestens eine Woche lang Zellenarrest eingebrockt hat. Seltsamerweise ist es ihm egal. Immerhin wird heute Abend ohnehin niemand auf ihn warten. Dr. Andrew schüttelt noch immer ungläubig den Kopf und schreibt in seine Akte, dass Cain den Test verweigert hat.

Natürlich ist der Forscher dazu verpflichtet dieses Ergebnis seinem Vorgesetzten zu melden. Dabei hätte er wirklich gerne gewusst, wie dieses Experiment ausgegangen wäre. Nach einer einstündigen Beratung wurde dann entschieden, wie Cain für seinen Regelverstoß bestraft werden soll. Genau wie er es bereits vermutet hat, hat man ihm für die nächsten zehn Tage Zellenarrest aufgebrummt. Cain ist daher nur wenig überrascht, dass kurz nach Mittag das Sonderkommando in der Cafeteria auftaucht. „073, du wirst nun mit uns kommen." Zur eigenen Sicherheit, hat der leitende Forscher ausgebildete Nahkämpfer zur Unterstützung angefordert, sollte Cain Widerstand leisten. In aller Ruhe trinkt er sein Glas aus und lässt sich dann widerstandslos in sein Zimmer geleiten. Er kann hinter sich hören wie die Tür verriegelt wird. Auch wenn er nun in temporärer Einsamkeit ist, war es ihm das wert gewesen. Dr. Andrew einmal mal ordentlich die Meinung sagen. So viel also zum Thema, er solle sein bisheriges Verhalten beibehalten. Satz mit X – war wohl nix. Cain lässt sich auf sein Bett fallen. Man wird ihm dreimal täglich eine Mahlzeit bringen und alle sechs Stunden nach ihm sehen, ob alles in Ordnung ist. Jedenfalls muss er nun darüber nachdenken, wie er sich die nächsten zehn Tage seiner Einzelhaft die Zeit vertreiben soll. Man könnte ihm aber wirklich einen Fernseher zur Verfügung stellen. Dieser Antrag wurde bereits drei mal abgelehnt. Wahrscheinlich will man damit verhindern, dass er von der Außenwelt erfährt.

Oder ein Computer wäre auch gut. Er verlangt nicht einmal einen Internetzugang, sondern wäre schon damit zufrieden Solitär oder Schach spielen zu können. Er hat den Forschern schon oft dabei zugeschaut. Doch die richtigen Karten und Figuren sind aus Holz gemacht. Cain stöhnt einmal frustriert. Wenn er Evelyn nicht kennen würde, hätte er gehofft vor Langeweile zu sterben. Dann wäre der endlose Alptraum endlich vorbei. Er kann sich noch gut daran erinnern als er mal ein halbes Jahr in seinem Zimmer eingesperrt wurde. Irgendwann hat er vor Verzweiflung angefangen seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen, sodass man ihn in seinem Bett fixieren musste. Als später dann ein Psychotherapeut gekommen ist, hatte er sich geweigert zu reden. Es war damals eine sehr schwere Zeit für Cain gewesen. Doch das allerschlimmste was man ihm antun kann ist von ihm zu verlangen mit 076 zu interagieren. Die beiden hassen sich. Er will seinen Bruder nicht sehen. Wenn man ihn vor die Wahl stellen würde, ob er ein Gespräch mit 076 oder einen Monat Zellenarrest bevorzugen würde, lässt er sich lieber einsperren, als nur ein Wort mit seinem jüngeren Bruder wechseln zu müssen. Manchmal hat es auch etwas Gutes wenn man eingeschlossen wird, dann kann er sich zumindest vor diesen lächerlichen Experimenten drücken. Zumindest hofft er das. Irgendwann rollt sich Cain zusammen. Wenn er Löcher in die Luft starrt, wird die Zeit auch nicht schneller vergehen. Das werden zehn lange und sehr einsame Tage werden.

An diesem Abend kommt kurz ein Mitarbeiter vorbei, der ihm ein Tablett in sein Zimmer bringt. Darauf steht ein Teller mit einem Hühnerschenkel, einem gekochten Ei, etwas Käse und ein Glas mit Milch. Der Hunger treibt es rein. Cain hasst es wenn er sich sein Essen nicht selbst aussuchen kann. Da muss er jetzt durch, ob er will oder nicht. Nach einer Stunde wird das Tablett wieder abgeholt. Bis auf die Hühnerknochen ist nichts mehr übrig. Er hat alles restlos aufgegessen. Schließlich nimmt er sich ein Buch und beginnt es zu lesen. Dieses hat er schon dreimal durchgelesen und kennt seinen Inhalt fast auswendig. Eine andere Beschäftigungsmöglichkeit bleibt ihm nicht. Mitten unter dem Lesen ist Cain irgendwann einfach eingeschlafen. Als er am nächsten Morgen aufwacht, steht bereits sein Frühstück auf den Tisch. Ausgeruht wirft einen Blick auf die kleine Uhr, die über seiner Tür hängt. Es ist kurz nach halb zehn. „Echt jetzt...?" Er quält sich heraus, um sein Frühstück zu essen. Am gestrigen Abend hat ihm eindeutig etwas gefehlt. Er fragt sich gerade wirklich was Evelyn macht und ob sie ihn genauso vermisst wie er sie auch. Plötzlich überkommt ihm ein seltsamer Gedanke. Was soll er nur tun, wenn sie nur einen Vorwand gesucht hat um ihn loszuwerden? Cain schüttelt den Kopf. Nein – so etwas würde sie niemals tun. Er vertraut ihr und er kann sich gar nicht vorstellen wie sehr sie ihn wirklich vermisst. Ihm stehen monotone Tage bevor. Cain ist so langweilig, dass er anfängt sein Zimmer aufzuräumen und zu putzen. Normal übernimmt das eine Reinigungskraft, doch so hat er zumindest eine geringe Art von Beschäftigung. Und das scheint sich auch auszuzahlen. Zwischen dem ganzen Gerümpel in seinem Kleiderschrank, findet er ein paar alte Tuben unterschiedlicher Farben, die er mal vergessen hat.

Der Schwarzhaarige nimmt die Kunststoffflasche zur Hand und schüttelt sie einmal kräftig. „Sie sind noch gut..." In diesem Moment glaubt er den Jackpot geknackt zu haben. Cain lässt alles links liegen und bringt die Farbtuben auf seinem Tisch. Früher hat er damit auf Glas gemalt, doch weil keines vorhanden ist, müssen eben die Wände dran glauben. Mit seinen Fingern beginnt er damit die Farbe auf die Wände zu verteilen. Helle und dunkle Grüntöne zeigen exotische Pflanzen, die es im künstlichen Tropenhaus gibt. Er malt einen kleinen Teich mit Fischen darin hin. Bunte, farbenfrohe Fische. Am liebsten hätte er auch das Meer auf eine Wand gemalt. Oder einen Berg, die Sonne, Flüsse oder Krebse. Doch dann wird er ganz gewaltigen Ärger bekommen. Man würde ihn fragen woher er das kennt, geschweige denn wie er auf solche Ideen gekommen ist. Beim nächsten Kontrollbesuch hätte sein Betreuer fast die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Was zur Hölle machst du da, 073?" Cain zuckt nur einmal mit den Schultern. Inzwischen sehen seine metallischen Finger schlimmer aus als die bunten Eier, die es zu Ostern gibt. „Das kommt davon, wenn man mir keine Beschäftigung gibt. Irgendwie muss ich mir ja die Zeit vertreiben." Sein Betreuer fängt an leise zu fluchen, sagt aber nichts mehr dazu, sondern geht einfach wieder. Cain grinst einmal triumphierend. Das dumme Gesicht des Forschers war es ihm allemal wert gewesen. Überraschenderweise wird ihm am nächsten Tag ein neues, speziell für ihn angefertigtes Buch gebracht. Anscheinend hat Dr. Curtis dieser Anblick so dermaßen verstört, dass er sofort ein neues Buch hat erstellen lassen, bevor Cain noch auf dümmere Ideen kommt. Es heißt nicht umsonst: Not macht erfinderisch. Da bildet Langeweile keine Ausnahme.

Endlich hat er den letzten Tag seiner Gefangenschaft überstanden und darf sich wieder frei in der Einrichtung bewegen. Allerdings wird er direkt zu Dr. Andrew bestellt und ist absolut nicht glücklich darüber, dass der Test, den er verweigert hat wiederholt werden soll. Nochmal kann er sich keine zehn Tage leisten, in denen er weggesperrt wird. Man muss ihm gar keinen Befehl erteilen. Er nimmt wortlos das Skalpell in die Hand und setzt sich, um sich die scharfe Klinge direkt und ohne nachzudenken in sein hinteres Ohr zu drücken. Cain beißt die Zähne zusammen, als der Schmerz einsetzt, doch lässt er das Messer augenblicklich fallen, als eine Frau unter den zwölf Anwesenden laut zu schreien beginnt. Sie presst ihre Hände auf die blutende Wunde und beginnt vor lauter Schmerzen zu weinen. Jetzt wird Cain klar, was hier eigentlich gespielt wird. Das sind keine Forschungsassistenten, sondern verkleidete Klasse-D Mitarbeiter. Jene arme Seelen, die von der Einrichtung als Versuchskaninchen missbraucht werden. Cain hat mal gehört, dass die meisten Mitarbeiter der Klasse-D verurteilte Straftäter sind, die eigentlich die Todesstrafe bekommen sollten und nun als Kanonenfutter dienen. Ein anderer Teil besteht aber auch aus ehemaligen Angestellten, die abtrünnig geworden sind. „Verstehe..." Dr. Andrew macht sich sofort Notizen, während die Frau zur Krankenstation gebracht wird. „Auch wenn du deinen Angreifer nicht kennst, kann man deine Anomalie nicht austricksen." Am Ende hat man doch wieder bekommen, was man von Cain verlangt hat.

Zumindest hat er es jetzt hinter sich und darf endlich gehen. Seltsamerweise hat er wegen seiner Wandmalerei keine auf den Deckel bekommen und muss sie nicht wieder entfernen. Nun da er seine Strafe abgesessen hat, beginnt er wieder damit sein normales Verhalten an den Tag zu legen. Er hilft tagsüber anderen und setzt sich am Abend mit einem Buch in das Tropenhaus, um zu lesen. Manchmal setzt er sich auch an den Teich, um den Fischen beim schwimmen zuzusehen. Er muss nur noch einen Tag durchhalten. Morgen wird Evelyn wieder zurückkommen und dann kann er endlich wieder aufregende Gespräche mit ihr führen. Ein kümmerliches Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht. Besonders lange bleibt es aber nicht vorhanden. Cain schaut einmal auf die Uhr. Es ist gerade einmal halb neun und er hat das Gefühl schon eine halbe Ewigkeit hier zu sein. Er seufzt einmal leise und versucht sich weiterhin die Zeit zu vertreiben. Schließlich ist der Schwarzhaarige so in seinem Buch versunken, dass er beinahe die Zeit vergessen hätte. In Windeseile macht er sich auf dem Weg, um gerade noch rechtzeitig – eine halbe Minute vor seiner Frist zurück zu seinem Zimmer zu kommen. „Du bist heute wirklich spät dran, 073. Rein mit dir." Der Nachtwächter zeigt auf seine Zimmertür. „Ja, tut mir sehr Leid. Ich war so in meinem Buch vertieft, dass ich die Zeit vergessen hab." Ohne ein weiteres Wort zu sagen geht er in sein Zimmer und kann hören wie hinter ihm die Tür verriegelt wird. Er seufzt einmal und wollte gerade in sein Bett gehen, als er plötzlich eine leichte Bewegung aus dem Augenwinkel bemerkt. Cain wirbelt blitzschnell herum und glaubt nicht was er da sieht. Ihr braunes Haar glänzt wunderschön und ihre grünen Augen sehen ihn warm an. Sie lächelt ihn an und legt sich dann nur den Zeigefinger an die Lippen. „Schhh...", macht sie es leise.

Die verbotene Liebe zweier HerzenWhere stories live. Discover now