Kapitel 5

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Elodye

Die letzten Stunden vor unserem Eintreffen in Erredas zogen sich hin wie die langen Winternächte des Nordens. Sie schienen Ewigkeiten anzudauern, und mit jedem Schritt schlug mein Herz stärker. Ich war noch nie in der Capita gewesen, ich kannte sie nur aus Bildern und Mamas Erzählungen von ihrer Zeit bei Hofe. Selbst Dandelia war bereits mehrmals in Erredas gewesen, ihre Familie lebte dort und sie ging regelmäßig mit Großmutter dorthin, um die neusten modischen Kreationen für uns einzukaufen. Doch ich durfte sie bisher nie begleiten, was vor allem an meinem fehlenden Glanz lag und der Tatsache, dass ich die Thronerbin war, die letzte Faeryn. Um meine Sicherheit willen waren wir in den entferntesten Winkel der Partierre meiner Familie gezogen, eine der kleinsten, nördlichen Inseln, wo niemand wusste, dass ich die zukünftige Herrscherin war. Dort interessierte sich niemand für die königliche Familie und ihre dramatischen Entwicklungen. Einige wussten nicht einmal, wie der regierende Monarch überhaupt hieß.

Mama neben mir redete unaufhörlich auf mich ein, immer wieder wiederholte sie den Ablauf. Ich würde durch das östliche Stadttor in Erredas einreiten, da dort die, wie Mama es nannte, „Große Treppe", lag, die direkt durch die Ringe zum Palast führten. Oben, auf dem höchsten Ring und unmittelbar vor den Palasttoren, würde ich absteigen, und die jahrhundertealten Worte an mein Volk richten, wie König Methyn, und der König vor ihm, und der vor ihm. Immer wieder betonte Mama, wie wichtig dieser Einritt war, dass es meine erste Handlung als Königin war, eine Art Feuerprobe, und dass nichts schief gehen durfte. Ich schwieg, bis sie mich dazu aufforderte, die einstudierten Worte aufzusagen. Immer und immer wieder, bis ich beinahe losgeschrien hätte. Irgendwann schien sie zufrieden zu sein, und mit ihrer Stille umhüllten mich nur noch die Geräusche der Pferdehufe auf dem weichen Waldboden, das Knarren der vollbeladenen Wagen und das Rauschen der Waldblätter.

Ich atmete tief ein und aus. Die Waldluft im Süden roch ganz anders, als die in meiner Heimat. Viel süßer und schwerer, und im Laufe unseres Ritts mischte sich immer mehr das Salz des Meeres darunter. Wir kamen Erredas immer näher. Ich hatte erwartet, dass ich von der südlichen Hitze längst kollabiert wäre, allerdings war die Sonne noch nicht vollständig aufgegangen, und die Furcht vor dem Kommenden ließ mich frösteln. Der Wald lichtete sich vor uns und vor mir lag das Glitzern der See, die Erredas wie ein Halbmond umrandete, und die Landbrücke, die die Stadt mit dem Festland verband. In der Ferne strahlten die weißen Mauern des Palastes, der sich wie ein leuchtender Berg in den Himmel erhob. Dies war also mein neues Zuhause. Es sah furchteinflößend aus, als würde es alle meine Geheimnisse kennen und mir drohen, mich damit bloßzustellen. Die gepflasterte Landbrücke vor uns war menschenleer. Es war noch viel zu früh für den Durchgangsverkehr, und alle Bewohner würden sich im Stadtinneren tummeln, in der Hoffnung, einen Blick auf den zukünftigen Herrscher werfen zu können, wenn er das Tor durchschritt.

Auf mich.

Wir hielten an, und Dandelia und Mama kleideten mich in das schwere, schwarze Kleid, jenes für den Einritt vorgesehen war. Es war Tradition, dass der zukünftige Herrscher nach dem Ableben des Regenten in Trauerflor in die Stadt einritt, um seine Verbindung zum trauernden Volk und um seine eigene Trauer, und somit Unschuld am Tode des Monarchen, zu symbolisieren. Dandelia betupfte sicherheitshalber erneut meine Hände und Wangen mit Puder, Mama platzierte den formellen Schleier, der weit über meine Schultern und Cassias Rücken fiel. Mittlerweile war ich ein nervöses Wrack. Ich verdankte es einzig und allein Cassias Ruhe nicht das Bewusstsein zu verlieren. Den Einritt musste ich alleine schaffen, ohne Mama oder Dandelia an meiner Seite. Ein Monarch musste stark sein für sein Volk. Und wenn er es nicht einmal schaffte, alleine seine Capita zu betreten, war dies kein Zeichen großer Stärke. Mama, die Garde und die Bediensteten würden nachfolgen.

Bevor ich erneut Cassia bestieg drückte mich Mama überraschend herzlich an sich.

„Sei stark, mein Liebling. Du bist es, was dieses Land braucht. Zeige es ihnen."

Die Erbin des Faerynthrons // LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt