Kapitel 1

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Elodye

Schmerzhaft bohrte sich diese verfluchte Nadel erneut in meine Fingerspitze. Dieses Mal in den kleinsten, letzten Finger. Das hatte ich wohl davon, mich von der Stickarbeit ablenken zu lassen. Aber das massenhafte Sterben der Fische, das sich nun immer mehr häufte, hatte meine Aufmerksamkeit weiterhin vollends unter Kontrolle. Wenn wir dafür nicht bald eine Lösung finden würden, würde unsere, und sämtliche Partierren des Nordens, Zugrunde gehen, etwas anderes als Fischfang konnte man hier nicht als Einnahmequelle etablieren. Auf den kargen Böden wuchs wegen der Kälte und frühen Dunkelheit nichts.

„Verdammt", murmelte ich, und wollte mir als gleich dafür auf die Zunge beißen. Ein roter Tropfen sog sich in das blütenweiße Tuch ein. Ich hatte mich erneut ablenken lassen. Nun musste ich schon wieder eine strategisch schlau angelegte Blüte darüber sticken, in der Hoffnung, dass weder Mama, noch Großmutter dieses Malheur entdecken würden, oder sie mein Fluchen am benachbarten Tisch gehört hatten. Vorsichtig schielte ich zur Seite. Mama und Großmutter saßen jedoch weiterhin makellos über ihrer Stickarbeit. Selbst jetzt, im immer fahler werdenden Licht der näherkommenden Abenddämmerung, leuchtete und funkelte ihre Haut wie das Mondlicht, schimmernd wie von tausenden winzig kleinen Diamanten überzogen. Wie immer konnte ich mir ein Zähneknirschen nur schwer verkneifen, als mein Blick auf meine eigene Haut fiel, die normaler und menschlicher nicht aussehen konnte. Bald wäre die heutige Handarbeitsstudie beendet, und ich konnte zum vergnüglichen Teil des Tages übergehen, meiner abendlichen Freizeitstunde.

Mein Finger hatte aufgehört zu bluten und ich wand mich wieder meinem Stickrahmen zu.

So sehr ich mich auch bemühte, dieser dämlichen Stickerei konnte ich einfach nichts abgewinnen. Auch wenn Mama und Großmutter seit Kindestagen mit ihrem erbarmungslosen Unterricht in Etikette und Damenhaftigkeit versuchten, es in mich hinein zu prügeln. Ihrer Ansicht nach war Stickerei eine der höchsten Künste, die eine Dame unseres Standes erlernen und perfektionieren musste. Was ich allerdings herzlich wenig nachvollziehen konnte, denn ich hielt es für höchst unwahrscheinlich, den Gesandten der benachbarten Lande mit einem Kreuzstich für eine Allianz zu gewinnen.

Seufzend durchsuchte ich den Stickkorb nach einem Garn in demselben Rot wie der Blutfleck und beschloss, ihn mit einer Tulpe zu tarnen. Tulpen waren nicht anspruchsvoll, und auch die einzigen Blumen, die ich zu Mamas Zufriedenheit bewerkstelligte. Als ich gerade am Blattgrün meiner Not-Tulpe arbeitete und der Fleck einwandfrei getarnt war, klopfte es zaghaft an meine Tür.

„Herein" Es konnte nur Dandelia, meine Zofe sein. Ansonsten klopfte niemand so dezent an.

Dandelia betrat mein Zimmer und knickste, sobald sie die Türe geschlossen hatte. Wie immer bauschten sich um ihre Ohren Gänseblümchen, die pink wurden, wenn ihr etwas unangenehm war. So wie jetzt gerade auch.

„Verzeiht die Störung, Eure Hoheit, ich weiß, dass Ihr während der Studienzeit nicht gestört werden wollt, aber gerade kam ein Bote mit dieser Nachricht. Er trug zwar kein Wappen, allerdings ist das königliche Siegel darauf. Er hielt mich zur Eile an. Es scheint sehr wichtig zu sein."

Mama und Großmutter hatten beide gleichzeitig bei den Worten „königliches Siegel" ihre Stickarbeiten auf den Boden fallen lassen. Nachricht von Hofe war üblich, allerdings, Nachricht des Königs... Das war bisher erst ein einziges Mal vorgekommen. Ich erinnerte mich noch gut daran, auch wenn es bereits vor elf Jahren geschehen war. Es war schließlich der Tag, an dem mein Leben sich radikal geändert hatte.

Mama war aufgesprungen und hastete sehr undamenhaft auf Dandelia zu.

„Sie können gehen.", sagte Großmutter, sobald Mama den Umschlag aus Dandelias Händen gerissen hatte. Sie knickste und verschwand durch die Tür, nicht ohne mir einen besorgten Blick und ein fast unmerkliches Nicken in Richtung Fenster zu geben. Vorsichtig schob ich den schweren Vorhang ein Stück zur Seite und sah den Boten, den sie gemeint haben musste. Das Pferd scharrte nervös mit den Hufen. Aus Erfahrung wusste ich, dass es die Emotionen seines Reiters spürte. Er selbst war komplett in schwarz gehüllt, mit einer Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Und, wie Dandelia bereits erwähnt hatte, trug er kein Wappen an der Seite, wie es eigentlich Pflicht war. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Ich stand auf und lief zu Mama und Großmutter, die in der Zwischenzeit das Siegel gebrochen hatten und nun den Inhalt des Briefes lasen. Mamas Hände zitterten. Mamas Hände zitterten nie. Großmutter blickte von dem Papier auf, und sah mich an, ihre Miene eine beängstigende Mischung aus Furcht und Stolz.

„Es ist soweit."

Meyre

Er machte es mir viel zu einfach. Diesen Angriff konnte ich schon mit sieben Jahren parieren.

„Ist das alles?", fragte ich während ich mit Leichtigkeit seinen Schwerthieben auswich.

Remnos schmunzelte. Trotz seines mittlerweile fortgeschrittenen Alters bewegte er sich immer noch federleicht wie ein Raubvogel.

„Unterschätze niemals deinen Gegner." Mitten in der Bewegung machte er plötzlich kehrt und griff mich von links an. Nur knapp konnte ich sein Schwert abwehren. Einen Zentimeter weiter, und er hätte mir einen gefährlichen Schnitt an der Hüfte zugefügt. Vorausgesetzt, er hätte ein Schwert mit scharfer Klinge und keines der Übungsschwerter aus Holz gehabt. Und vorausgesetzt, ich hätte diesen Zentimeter nicht geschafft. Hatte ich aber. Ein triumphierendes Lächeln zuckte in meinen Mundwinkeln. Nach all den Jahren des Trainings schaffte ich es endlich, mit ihm gleichauf zu sein. Zumindest öfter.

Die Schweißperlen liefen in kleinen Rinnsalen über meinen Körper. Es war fürchterlich heiß. Die Mittagshitze brannte erbarmungslos auf uns herab, und selbst mir machten die Temperaturen zu schaffen, obwohl ich ein Kind der Nahajarner war, dem Wüstenvolk, und mein Körper hohe Temperaturen deshalb eigentlich gut aushalten konnte. Allerdings wurden die Sommer in den letzten Jahren immer heißer, länger und trockener, genau wie die Dürren, die es mit sich zog.

Unser Trainingskampf ging schon ewig, und allmählich hatte ich Hunger. Die Zeit für die Mittagspause war längst verstrichen. Ich entschied, mir noch fünf weitere Minuten zu geben, um ihn zu entwaffnen. Hunger konnte ich nicht lange aushalten. Von allen nervigen Empfindungen war Hunger mir die Schlimmste. Kälte, Hitze, Müdigkeit, das war kein Problem. Aber Hunger? Es lag vermutlich daran, dass ich ihn als Kind zu oft erlebt hatte, bevor Remnos mich aufgelesen und in das Stützpunktlager gebracht hatte, wo ich jahrelang ausgebildet wurde. Ich hoffte inständig, dass man mich diesem Jahr in einen anderen Dienst berufen würde. Ich hatte es satt, ständig mit den Erstlingen auf Patrouille durch die Stadt zu laufen, während die Erstlinge sich entweder vor ihrem eigenen Schatten erschreckten oder hinter jeder Mauer einen Banditen vermuteten. Im Stützpunktlager lernten sie alles, außer der Realität. Und ein weiteres Jahr mit diesen Bakarthen, wie es in der nahajarnischen Sprache hieß, würde ich nicht überstehen. Es war mein Traum, die erste nahajarnische Waffenmeisterin und somit oberste Befehlshaberin der Armee zu sein. Niemand aus meinem Volk hatte bisher eine solche Laufbahn eingeschlagen, oder hätte sie bewerkstelligt. Zugegeben, die glorreichen Tage der Nahajarner als wohlhabendes Reisevolk waren längst verstrichen, und die meisten meiner Artgenossen lebten ein Leben zwischen Armut, Gefängnis und der nächsten Flasche Gebranntem. Natürlich konnte ich nicht die alten Zeiten von goldgeschmückten Kamelen wiederbringen, aber den Ruf und die Lebenssituation meiner Leute könnte ich verbessern. Vorausgesetzt, ich schaffte es bis zur Waffenmeisterin und das schaffte ich nur, wenn dieser Trainingskampf nicht bis in alle Ewigkeit weiterging.

Gerade als ich mich dazu entschloss, ihn mit seinen eigenen Tricks zu schlagen und mitten im Angriff kehrt zu machen, ertönten schallend und dröhnend die Glocken des Turms. Remnos und ich verharrten beide in der Bewegung. Es gab keinen Grund, die Glocken zu läuten, es stand weder ein Festtag, noch ein Durchlauf der königlichen Familie an.

Außer...

Meine Augen weiteten sich, als die Abfolge aus sieben Tönen unweigerlich meinen Verdacht bestätigten. Der schweißnasse Schwertgriff rutschte mir aus der Hand und das Holz prallte dumpf auf den Boden.

„Der König ist tot." Remnos stets undurchdringbarer Blick wanderte in Richtung des Palastes, der sich nur wenige Ringe über uns befand, erbaut auf dem einzigen Hügel in Erredas. So zumindest die Legende.

Der König war tot. 

Die Erbin des Faerynthrons // LESEPROBEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt