Trostloser Alltag

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Der letzte Wassertropfen fällt, bevor er für immer in der Dunkelheit des Abwasserkanals verschwindet. Cain hebt müde den Kopf und schaut sein eingefallenes Gesicht freudlos im Spiegel an. Sein kinnlanges, rabenschwarzes Haar ist zerzaust und ungepflegt. In seinen saphirblauen Augen spiegelt sich die Hoffnungslosigkeit wider. In den letzten Tagen hat der junge Mann sehr schlecht geschlafen. Dr. Andrew sagt immer, dass das am Vollmond liegen muss. Was auch immer ein Vollmond sein mag. Cain kann sich nicht daran erinnern jemals die Außenwelt gesehen zu haben. Bisher hat er sein ganzes Leben in diesem Gebäudekomplex verbracht. Schon vom Kindesalter an hat man ihm beigebracht, dass er in einem Krankenhaus ist. Ein großes Gebäude, um seinen 'Defizit' zu erforschen. Allerdings ist der Schwarzhaarige nicht auf den Kopf gefallen. Er weiß, dass das hier gewiss kein Krankenhaus ist, sondern viel mehr ein Gefängnis, das er wohl niemals verlassen wird. Cain stöhnt einmal leise. Ein weiterer, trostloser Tag, der genauso ablaufen wird wie all die anderen Tage auch. Aufstehen – Essen – Sich untersuchen lassen. Er weiß nicht einmal genau wie alt er eigentlich ist, geschweige denn wann er Geburtstag hat. Ein erneutes Stöhnen folgt. Sein trübsinniger Blick fällt auf den weißen Ring, der nicht entfernbar an seinem Hals befestigt ist. Ein nicht gerade unauffälliger Peilsender, den er rund um die Uhr tragen muss. Man hat ihm diesen als Strafe angelegt, als er vor zwei Jahren einen Fluchtversuch unternommen hat. Seitdem begleitet dieses Ding ihn tagein und tagaus.


„Bringen wir es hinter uns..." Cain verlässt das Badezimmer und zieht sich frische Kleidung aus synthetischen Fasern an. Seine stark gebräunte Haut hebt sich jedes mal von den hellen Stoffen ab. Die komplette Inneneinrichtung seiner Behausung ist aus Metall, Wolle und anderen nicht organischen pflanzenfreien Stoffen gefertigt. Sein zuständiger Betreuer hat ihm einmal erzählt, dass alles auf seine 'Bedürfnisse' abgestimmt ist. Wie lächerlich das einfach in seinen Ohren klingt. Selbst seine Bücher, die er schon unzählige Male gelesen hat sind aus einem chemischen Stoff gefertigt worden. Es ist grausam von den Wissenschaftlern, ihn seit Jahrzehnten wegen seinem kleinen 'Defizit' von der Außenwelt fernzuhalten. Irgendwann will er all die Dinge sehen, von denen er immer wieder in seinen Büchern gelesen hat. Wasser aus Flammen, Felder aus Sand, die endlosen Weiten hinter dem Horizont. All diese Dinge will er irgendwann einmal sehen. Doch bis dahin, wird es noch ein sehr langer und steiniger Weg sein. Cain verlässt nun sein Zimmer, um sich in die Hauptkantine zu begeben. Er ist einer der wenigen 'Patienten' die sich frei in der Einrichtung bewegen dürfen. Auf dem Weg dorthin passiert nichts neues. Inzwischen kennt er hier jede Tür, jeden Gang und jeden Mitarbeiter. Selbst wenn man ihm die Augen verbinden würde, könnte er sich ohne große Probleme zurecht finden.

Bevor Cain in die Hauptkantine geht um zu frühstücken, macht er einen kleinen Abstecher in eines der Behandlungszimmer, um die erste Kontrolle des Tages hinter sich zu bringen. „Größe – 185cm. Gewicht – 75 Kilogramm. Du hast abgenommen, 073. Isst du denn auch genug?" Er antwortet nicht, sondern zuckt nur einmal lieblos mit seinen Schultern. „Eine großartige Reaktion. Wenn du so weitermachst, müssen wir dementsprechende Gegenmaßnahmen einleiten." Nach der Größen und Gewichtskontrolle, setzt Cain seinen Weg in die Hauptkantine fort. Diese völlig unnötige Prozedur muss er jeden beschissenen Tag über sich ergehen lassen. Mit einem sehr geringen Hungergefühl, kommt er schließlich an seinem Zielort an. Selbst die Hauptkantine wurde in zwei streng getrennte Bereiche unterteilt. Während viele der Mitarbeiter sich auf der rechten Seite befinden, darf sich Cain ausschließlich nur auf der linken Seite aufhalten. Sollte er jemals auf die Idee kommen nach rechts zu gehen, wird er ganz gewaltig eine auf den Deckel bekommen. „Guten Morgen, 073", begrüßt einer der Angestellten ihn freundlich. Der Schwarzhaarige lächelt nur einmal schmal und wendet sich dann dem Buffet zu, welches vor ihm aufgebaut steht. Würste, Käse, Fleisch und Eier. Kein Brot – keine Brötchen. Genau wie jeden anderen Tag auch. Cain beginnt damit lieblos und durcheinander seinen Teller zu bestücken. Gerade will er nach einem gekochten Ei greifen, als er plötzlich ein vergessenes Brötchen auf dem Tischrand liegen sieht. Wahrscheinlich hat es einer der Mitarbeiter einfach hier verloren und vergessen. Cain überlegt, ob er es wirklich wagen sollte. Vielleicht hat man ihn sein ganzes Leben lang einfach belogen. Er kann nicht anders und muss es einfach wissen. Ohne groß darüber nachzudenken, nimmt er das verlorene Brötchen in die Hand. Eigentlich hat er sich wirklich darauf gefreut, eines dieser goldenen Gebäckstücke endlich essen zu können. Doch nur ein paar Sekunden später, reagieren die Pflanzenanteile des Brötchens auf ihn und das duftende Goldgebäck fängt innerhalb weniger Augenblicke damit an zu verklumpen und sich regelrecht in eine ungenießbare Schimmelmasse zu verwandeln. Cain beginnt in einer unbekannten Sprache zu fluchen, bevor er den nutzlosen Schimmelhaufen in den bereitgestellten Mülleimer wirft.

Gerade äußerst wütend und enttäuscht darüber, setzt er sich auf seinen Lieblingsplatz und schlingt sich sein Essen rein. Nicht einmal Kaffee kann er trinken, da die gemahlenen Kaffeebohnen vorher an einer gottverdammten Pflanze gewachsen sind. Nach seinem kleinen Wutausbruch, hat sich Cain auch relativ schnell wieder beruhigt. Glücklicherweise hat vom Personal niemand etwas davon mitbekommen. Jetzt schon völlig lustlos, stellt er seinen halbvollen Teller auf die Rückgabe zurück. In den letzten zwei Wochen hat sein Appetit rapide abgenommen. Da ist es kein Wunder, dass er von dem Forscher in der Gewichtskontrolle einen Einlauf bekommen hat. Ab morgen wird er sich mehr zusammenreißen müssen, sonst kommt man noch auf die Idee ihm eine Magensonde zu legen. Cain blickt einmal auf die große Uhr, die direkt über der Tür der Kantine hängt. Bis zu seinen nächsten Untersuchungen hat er noch etwas Zeit, also entscheidet er sich dazu seinen Lieblingsort in der gesamten Einrichtung zu besuchen. Doch kaum hat er die Hauptkantine verlassen und ist ein paar Schritte den Gang entlang gelaufen, brüllt ihm ein wütender Mitarbeiter hinterher. „073, du kommst auf der Stelle zurück." Cain zuckt zusammen. Was hat er nun wieder angestellt? Nicht gerade glücklich darüber, beginnt er damit dem Befehl Folge zu leisten und zum Forscher zurückzukommen. Dieser hält ihm völlig verärgert einen verschimmelten Brotklumpen hin. „073, was ist das?" Cain schluckt einmal. Er weiß genau was das ist. „Sieht aus wie ein verschimmeltes Brötchen", antwortet er. „Richtig! Habe ich dir nicht verboten Lebensmittel mit pflanzlichen Anteilen anzufassen?" Cain errötet einmal kurz und weicht dem Blick des Forschers aus. Anscheinend hat man es doch mitbekommen. „Tut mir Leid, Doc. Ich dachte nur...-"
„Du dachtest was? Das wir dich die ganze Zeit verarschen und die Brötchen nicht mit dir teilen wollen? Und wie siehst du überhaupt aus? Komplett ungewaschen und ungekämmt. Du schaust aus wie 076 wenn er Amok gelaufen ist. Für dich sind später neue Untersuchungen angeordnet worden, aber vorher gehst du in dein Zimmer zurück und pflegst dich gefälligst."

Cain lässt den Anschiss einfach über sich ergehen. Er hat den Forscher immerzu angeschaut, doch plötzlich sieht er aus dem Augenwinkel ein paar Bewegungen auf sich zukommen. Ein paar Leute schlendern über den Gang und kommen langsam auf ihn zu. Wie seltsam, diese Menschen kennt er gar nicht. Ob das wohl neues Personal ist? Eine kleine Gruppe von drei Männern, die sich über belanglose Sachen unterhalten. Und eine zierliche Frau, die schüchtern einen Ordner an sich gepresst hält. Als der Schwarzhaarige sie sieht, scheint für einen Moment die Zeit still zu stehen. Sie hat ihr kastanienbraunes Haar zu einem aufwändigen Dutt gebunden und ihre smaragdgrünen Augen strahlen Wärme und Freundlichkeit aus. Cain hat im Laufe seines Lebens schon viele Frauen gesehen, doch diese hier hat ein seltsames Gefühl in ihm ausgelöst. Ein Gefühl, dass er nicht kennt. „073, hast du mir überhaupt zugehört?" „...Äh...was...?" Cain hat gar nicht mitbekommen, wie der Forscher weiter geschimpft und ihm neue Befehle erteilt hat. „073..." Er fängt an sich die Schläfen zu massieren. „In letzter Zeit strapazierst du meine Nerven wirklich stark. Geh dich einfach duschen und komm dann in mein Behandlungszimmer..." Cain wendet sich ab ohne eine Antwort zu geben. „Und vergiss nicht dich zu rasieren und dir die Haare zu kämmen." Noch immer überwältigt von diesem Gefühl, kann der Schwarzhaarige nicht aufhören an diese Begegnung zu denken. „...Was...war das...?" Er fasst sich einmal an die Stirn und fühlt sich seltsam dabei. Verwirrt über diese neue Erfahrung, kehrt er in sein Zimmer zurück, um zu duschen. Noch immer hat Cain eigentlich gar keine Lust darauf, will es aber dennoch so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Die verbotene Liebe zweier HerzenWaar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu