Kapitel 10

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Noraja betrat das Clubgelände, welches in völliger Stille lag, denn außer ihr schien keiner weiter hier zu sein. Langsam lief sie auf einen großen, flachen Felsen zu, von dem aus man das gesamte Gelände überblicken konnte. Es war dieselbe Stelle, an der Noraja damals mit Remi gesessen hatte, als sie zum ersten Mal auf der Insel gewesen waren. Das Gelände war weitläufig, welches auf einer Seite direkt an das Meer grenzte, während die Seite zum Landesinneren, durch einen hohen Holzzaun, von dem Rest abgegrenzt wurde. Der Zaun diente dazu, das Clubleben von dem Rest der Insel abzugrenzen, denn auch, wenn die Beziehungen der Menschen hier oft ineinander überliefen, musste nicht immer jeder alles voneinander mitbekommen.
Noraja ließ sich auf den Felsen nieder und zog tief die frische Luft ein. Der Geruch von Weihrauch mischte sich unter die salzige Note des Meeres. Franzi musste im Laufe des Tages auf dem Gelände gewesen sein und es geweiht haben. Sie machte das regelmäßig, um die hier Anwesenden zu schützen. Noraja ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. Rechts von ihr stand das Clubhouse.
Es war ein Blockhaus, welches sich über zwei Etagen erstreckte. Von ihrem Platz aus konnte man direkt auf die große Eingangstür blicken. Diese bestand aus zwei flügelartigen Türen, welche von extra Holzstämmen umrandet waren. Jeder Holzstamm trug eingebrannte Runen.

Links stand in großen Zeichen Hugin, was so viel bedeutet wie, der Gedanke. Rechts stand Munin, was der Übersetzung nach „die Erinnerung" bedeutet.

Auch der Stamm über der Tür trug Runen, welche frei übersetzt Folgendes aussagten:

Hugin und Munin müssen jeden Tag über die Erde fliegen.Ich fürchte, dass Hugin nicht nach Hause kehrt, doch sorge ich mich mehr um Munin.

Immer wenn Noraja diesen Schriftzug las, wurde ihr Herz schwer und sie ließ für einen Moment ihr Leben stillstehen. Sie schloss die Augen und für wenige Sekunden gab sie sich ihrem Verlangen hin. Trauer und Wut vermischten sich und krochen durch ihren Körper. Sie spürte die Kälte in sich und bevor diese Noraja in Beschlag nehmen konnte, hielt sie inne. Sie öffnete die Augen und verschloss diese Gefühle ein weiteres Mal tief in sich.
„Ich liebe dich", sagte sie und sorgte somit dafür, dass auch an diesem Tag Munin wieder nach Hause fand.
Ihr Blick ruhte wieder auf dem Clubhouse, welches von außen, abgesehen von der Tür, völlig unauffällig schien. Die obere Etage hatte einen großen Balkon und an der anderen Seite des Hauses grenzte eine Garage an. Erst auf der Rückseite wurde es wieder interessant. Hier befand sich eine große Bar, welche direkten Zugang zum inneren des Gebäudes hatte. Die Theke war ebenfalls aus Holz und unmittelbar in das Gebäude eingebunden. Ein Vordach sorgte dafür, dass man auch bei Regen draußen sitzen konnte. Einige Meter entfernt davon befand sich eine feste Bühne und davor eine Tanzfläche, ebenfalls alles aus Holz. Je weiter man zum Meer sah, desto unberührter wurde das Gelände. Nur eine angelegte Feuerstelle, kurz vor dem Strand, gab es noch zu entdecken. Links von Noraja, weit abgelegen von dem Clubhouse, standen einige Bungalows für Gäste. Doch das eigentliche Highlight sah man nur, wenn man einige Meter lief und genau das tat Noraja mittlerweile. Sie genoss die Ruhe und spürte, wie die Sonnenstrahlen ihre Haut aufwärmten. Sie kam nach wenigen Minuten an einem Platz an, der mal, der beliebteste Platz auf der Insel werden sollte. Noraja stand auf einem kleinen Vorsprung und sah nach unten. Vor ihr breitete sich ein atemberaubender Anblick aus. Man sah einen selbsterbauten Thingplatz.
Das Gelände war hier abschüssig und ging mehrere Meter nach unten, bevor es sich wieder ebenerdig zu einer Felsmauer erstreckte. In den Abhang hatten Noraja und der Rest ihrer Familie, Treppen aus Steinplatten gebaut. Wodurch am Ende eine Art 180-Grad-Amphitheater entstanden war. Am Fuße dessen, befand sich eine große Feuerstelle, um die riesige Steine lagen, welche als Sitzfläche genutzt werden konnten. In der dahinterliegenden Felswand gab es einen Felsvorsprung, der durch eine kleine, in den Fels geschlagene Treppe, erreichbar war.Noraja setzte sich auf eine der oberen Treppenstufen und ließ die Umgebung auf sich wirken, während ihre Gedanken abschweiften und zu den Walhalla Fighters wanderten. Der Club war über die letzten Jahre zu Norajas Familie geworden, die sie beschützten und unterstützten, wo sie nur konnten.
Der Anführer der Walhalla Fighters war aktuell Remi. Er hatte die Position des VIZE-Präsidenten schon seit einigen Jahren und übernahm die Aufgabe, den Club zu führen, nachdem der Präsident verstorben war. Normalerweise wäre er, nach dessen Tod, direkt aufgestiegen, aber er lehnte das ab.
Er konnte es nicht, noch nicht.Remi war bereit dazu, seine Brüder neu abstimmen zulassen, doch jeder Member war der Meinung, dass diesem Platz nur einer gerecht werden konnte. Remi. Und so ließen sie ihm die Zeit, die er brauchte. Mehr Menschlichkeit, Liebe und Vertrauen konnte man einer Person wohl nicht entgegenbringen.
Noraja hatte sich so in ihren Gedanken verloren, dass sie nicht bemerkte, wie Remi sich näherte.
„Hier bist du", sagte er und Noraja zuckte vor Schreck zusammen.
Sie drehte sich und sah zu ihm auf.
„Sorry, wollte dich nicht erschrecken."
Remi setzte sich neben sie und sah gedankenverloren über das Gelände. Noraja spürte sofort, dass er angespannt war. Auf seiner Stirn zeichneten sich tiefe Sorgenfalten ab und seine sonst so gelassene Art, war verschwunden.
„Passt schon", sagte sie. Er sah sie mit einem traurigen Blick an.
„Alles okay? Du bist doch eigentlich nie hier."
Noraja nickte zögerlich.
„Ja alles gut. Ich weiß nicht, heute hat es sich richtig angefühlt", erwiderte sie.
Remi lächelte leicht, legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie zu sich. Er gab ihr einen sanften Kuss auf den Scheitel und ließ seinen Kopf an ihren sinken.
„Okay, warum bin ich hier, Remi?", fragte Noraja.
Remi nahm seinen Arm von ihr und sah sie an. Die Traurigkeit war verschwunden, denn Wut und Zorn spiegelten sich plötzlich in seinen Augen und Noraja ahnte bereits, dass es ein verdammt langer Tag werden würde.
„Lass uns ins Clubhouse gehen. Die anderen sollten auch bald kommen."
Sie nickte, stand auf und gemeinsam liefen sie zurück.
Am Clubhouse angekommen, betrat zuerst Remi das Gebäude, gefolgt von Noraja. Die untere Etage bestand ausschließlich aus der Bar, die man auch von außen sehen konnte. Ansonsten gab es nur noch einige Tische und Sitzmöglichkeiten zu finden. Rechts von ihnen lag eine Treppe, welche in die zweite Etage führte, und genau da wollten die beiden hin.In der oberen Etage gab es mehrere Zimmer. Einmal den Memberraum, ein Bad und vier kleine Zimmer, die zum Übernachten dienten. Der Memberraum lag am Ende des Flurs, den die beiden gerade betraten. In der Mitte des Raumes stand ein großer, langer Holztisch, auf dem, das Colour der Walhalla Fighters, eingebrannt war. Im Falle der Walhalla Fighters, waren es zwei gekreuzte Äxte, die mittig angeordnet waren. Darüber stand Walhalla Fighters und darunter Brotherhood.Von diesem Zimmer aus konnte man auf den großen Balkon gelangen und genau auf diesen steuerte Remi zu.
Beide setzten sich in einen Sessel und zündeten sich eine Zigarette an.
„Also. Was für einen Hurensohn holen wir uns diesmal?", fragte Noraja völlig ausdruckslos.
Remi sah auf und in seinen Augen war pure Verachtung zu sehen.
„Er bietet online Kinder zum Verkauf an. Norbi ist durch Zufall auf ihn gestoßen. Er war nicht leicht zu finden, da er kaum länger als vierundzwanzig Stunden an einem Ort verweilt. Aber heute konnten wir ihn knappe fünfzig Kilometer von hier ausfindig machen. Norbi konnte es fast nicht glauben, dass dieser Bastard gerade in unserer unmittelbaren Nähe ist und hat mich sofort informiert. Er ist zwar nur ein Mittelsmann, aber vielleicht singt er uns ja ein Lied, bevor er gehen muss. Ein paar Jungs haben ihn schon im Auge und Norbi verfolgt ihn auch. Er ist mit ein paar Mitarbeitern in einer alten Kneipe untergekommen und scheint dort auch die Nacht verbringen zu wollen. Ich denke, das ist die beste Chance, die wir bekommen werden, um ihn uns zu greifen", erklärte Remi.
Noraja schüttelte angewidert den Kopf und schnaubte.
„Gut, dann lass uns auf den Rest warten und dann holen wir uns diesen Abschaum", sagte sie und zog an ihrer Zigarette.

Noraja - Dead Or Alive ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt